Brockenlauf


Bis Stendal fahre ich mit dem Rad, vom Barleber See über Oschersleben (Bode) bis Darlingerode nutze ich drei Hopper-Tickets, und die letzten Kilometer bis Ilsenburg schwinge ich mich wieder aufs Rad. Das ist mein Plan. Um rechtzeitig zur beginnenden Nachtruhe um 22 Uhr in der Ilsenburger Turnhalle anzukommen, beginnt meine Anreise gegen 12:45 Uhr. In Ziegenhagen angekommen, liegt genau eine Stunde Radfahrt hinter mir. Es ist kaum windig, sodass ich gut vorankomme. Den kurzen Zwischenstopp beim Bäcker hätte ich allerdings doch besser nicht gemacht, denke ich mir, als ich auf dem Weg durch die Stendaler Innenstadt eifrig in die Pedalen trete. Schließlich gilt es am Bahnhof noch ein Ticket zu lösen. Eilig suche ich das Bahnhofsinnere auf und drängele mich am Automaten freundlich vor. Es sind nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt des Zuges und der Automat will keinen meiner 5-Euro-Scheine akzeptieren. Verärgert trage ich mein Rad die Treppe hinunter und wieder hinauf, schaffe es in allerletzter Minute in die S-Bahn und suche sofort die Zugbegleiterin auf. Diese weist mich zunächst zurecht, händigt mir jedoch freundlicherweise das gewünschte Hopper-Ticket zum Normalpreis aus. Dank der angeregten Unterhaltung mit einer betagten Radfahrerin, die beim Passieren von Zielitz über die Abraumhalden des Kaliwerkes staunt, sind die 50 km bis zur Haltestelle Barleber See gefühlt in wenigen Minuten zurückgelegt.


Statt mein beidseits beladenes Rad über die Brücke zu hieven, trage ich es über die Gleisen und fahre in Richtung Barleber Seenlandschaft. Den Barleber See I lasse ich links liegen, denn ich ziehe vor, im Barleber See II zu baden, der laut meiner Recherche eine natürlichere Badeumgebung bietet. Nach einigem Suchen finde ich schließlich eine sonnige Stelle und begebe mich ins Wasser, um Sekunden später einen Schwan mit zwei großen Küken zu entdecken, die direkt auf mich zusteuern. Das war ein kurzes Vergnügen, denke ich, als ich mit reichlich Schlick unter den Füßen wieder Land gewinne. Wenn zwischen mir und dem Schwan kein Meter Höhenunterschied läge, würde er mich sicherlich vom Ufer verjagen. Sein Revier verteidigend, harrt er mit seinen Jungen geduldig aus, bis ich mir schließlich wieder die Kleider überwerfe und von dannen ziehe. Da mir die anderen vegetationsfreien Uferbereiche aufgrund fehlender Sonne nicht zusagen, entscheide ich mich letztendlich für ein Bad im Barleber See I, den ich heute nur mit einem anderen Badegast teilen muss.

Zurück an der Bahn-Haltestelle, steige ich in die S-Bahn, erwerbe ein weiteres Ticket und steige in Magdeburg-Buckau um. Mit Verspätung setzt sich der HarzElbeExpress in Bewegung. In Oschersleben löse ich das dritte Hopper-Ticket und steige in einen verspätet ankommenden HEX. Hätte ich dem Zugpersonal doch besser zugehört, ärgere ich mich, als ich beim erforderlichen Umstieg in Halberstadt nicht rechtzeitig das richtige Gleis finde und sich der HEX Richtung Darlingerode ohne mich auf den Weg macht. Ob ich es noch rechtzeitig zur Nachtruhe schaffe? Gedanklich sehe ich mich schon auf dem Rad durch das dämmernde Harzvorland fahren. Drei Bahnangestellte raten mir, die nächste Verbindung zu nehmen. Die Wartezeit im 2011 in der Kategorie Kleinstadtbahnhof als 'Bahnhof des Jahres' ausgezeichneten und seit 2014 den Namen 'Kulturbahnhof' tragenden Bahnhof vertreibe ich mir mit einem Döner, dessen Fleisch bereits kalt ist. Zwar gilt mein Ticket nur bis Darlingerode, doch fahre ich bis Ilsenburg weiter, denn auf eine Radfahrt in einer dunklen, mir unbekannten Gegend habe ich heute keine Lust. Außerdem würde das zu viel Zeit fressen.

Am Ilsenburger Bahnhof frage ich nach dem Weg zur Turnhalle, die ich kurz vor 22 Uhr erreiche. Das Licht ist bereits aus, doch durch die von draußen hereinallende Straßenbeleuchtung erkenne ich neben der Tür einen Stapel aus vier Gymnastikmatten, während die anderen Matten in der kleinen Halle verteilt liegen, teilweise bereits mit schlafenden Körpern beschwert. Meine Isomatte brauche ich also nicht ins Freie kramen. Einige Sportler befinden sich sicherlich im Haus der Vereine, wo Doppel-Olympiasieger Walter Cierpinski heute einen Vortrag hält. Froh darüber, noch ein freies Plätzchen bekommen zu haben, dusche ich, bevor ich drei bayrischen Dialekt sprechenden Sportlern die verbliebenen drei Matten reiche. Eine schnarchlose Nacht wäre auch zu schön gewesen, denke ich mir, als ich wenig später ein lautes Schnarchen vernehme. Ich sehe, wie eine Frau mit ihrem Schlafsack in den Umkleideraum umzieht. Kurz danach verlässt der Mann neben mir seinen Schlafplatz. Im Auto schläft es sich vermutlich ruhiger.

Trotz Ohropax nicht wirklich ausgeschlafen begebe ich mich gegen 8 Uhr zum Rathaus, um meine Startunterlagen abzuholen. Den eigens mitgebrachten Kabelbinder werde ich nicht brauchen, stelle ich fest, als ich lese, dass der Transponder am Handgelenk zu befestigen ist. Beim Tangermünder Lichterlauf vor zwei Wochen löste sich das Gerät vom Schuh, da ich es an dem Schnellschnürsystem meines Salomon-Schuhs offensichtlich nicht fest genug angebracht hatte. Infolgedessen hatte ich mir nun einen Kabelbinder besorgt, der heute jedoch nicht zum Einsatz kommen wird. Mit einem 20 Euro-Schein, den ich auf dem Ilsenburger Marktplatz finde, begebe ich mich auf den Weg zum Lidl. Meinen Einkauf frühstücke ich auf einer Bank am Forellenteich. Auf dem Marktplatz herrscht bereits großer Trubel. Neben dem 48. Brockenlauf richtet Ilsenburg dieses Jahr auch die Deutsche Meisterschaft im Berglauf aus. Den Läufern, die an letzterem teilnehmen, steht ab 9:30 Uhr eine Strecke von 11,7 km bevor. 20 Minuten später starte ich als einer von 534 Brockenläufern, die sich für die 26.2 km lange Strecke und eine Bewältigung von 890 Höhenmetern angemeldet haben. Richtung Berg verabschiedet uns ein applaudierendes Publikum, in dessen Reihen sich neben dem Veranstalter auch Innenminister Holger Stahlknecht befindet.

Zunächst geht es bei minimalem Anstieg aus der mittelalterlichen Stadt heraus. Auf gut ausgebauten Forstwegen mit moderater Steigung passieren wir nach zwei Kilometern den Ilsestein, das Wahrzeichen Ilsenburgs. Die Strecke führt nun entlang der Ilse, die gemächlich vor sich hin plätschert. Nachdem Pasternosterklippe, Loddenke sowie die Ilsefälle hinter uns liegen, wird es ab dem sechsten Kilometer anspruchsvoll. Ein Untergrund aus Schotter und eine zunehmende Steigung bremsen nicht nur mein Tempo. Für einige hundert Meter ist der Weg so schmal, dass ein Überholen kaum möglich ist. Umgeben von alten Bäumen tanke ich nach sechseinhalb Kilometern an der ersten Verpflegungsstelle auf. Auf der Hermannchaussee (Hermannsklippe) laufen nur noch die wenigsten. Auch ich schalte einen Gang zurück und bewältige die Steigung mit großen Schritten. Viele Läufer überhole ich dabei und erreiche schließlich den ehemaligen Kolonnenweg. Nach 1:34 h erreiche ich den 12,1 km entfernten, 1141 Meter hohen Gipfel. Das Wetter spielt mit und ermöglicht herrliche Ausblicke. Der Brockenhexe strecke ich meinen Hintern entgegen, damit sie ihres Amtes walten und mich vom Berg fegen kann. Den Gedanken, hier oben für einen Moment zu verweilen, verabschiede ich schnell, denn mir geht es gut und ich will weiter laufen.

Bergab geht es nun zunächst auf asphaltiertem Untergrund, auf welchem mir sehr viele Wanderer begegnen. Nach Erreichen der ersten Verpflegungsstation bei Kilometer 16 spüre ich erstmals ein Ziehen in meinen Waden. Ich laufe weiter, doch verlangsame ich später das Tempo und gehe schließlich, um ausgeprägte Krämpfe zu verhindern. Ich bin umgeben von einer Landschaft, die von trockenen Fichten dominiert wird. Ein Läufer, den ich kurz zuvor überholt hatte, als er ging, holt mich schließlich ein und mutmaßt den Grund meiner Gehpause. Er meint, Wadenkrämpfe zwingen ihn zu Gehpausen. Er hätte in den vergangenen Wochen nicht ausreichend trainiert. Ich stelle fest, dass ich das Bergablaufen unterschätzt habe. Nach einer längeren Gehpause und vielen Läufern, die mich überholen, wechsele ich wie der ins Lauftempo. Mich holt ein Läufer ein, dessen Tempo genau meinem entspricht, und so laufen wir Seite an Seite. Ohne miteinander zu kommunizieren, laufen wir mehrere Kilometer nebeneinander und obwohl noch einige Kilometer vor uns liegen, sehe ich uns schon gemeinsam im Zieleinlauf. Kurz vor dem Erreichen Ilsenburgs fällt mein Mitläufer jedoch zurück, sodass ich den Marktplatz allein erreiche und nach 3:00:26 erschöpft, zufrieden und schmerzfrei durchs Ziel laufe. Sofort wird mir der Transponder abgenommen und ich erhalte ein kleines Papier mit den gemessenen Zeiten. Am Verpflegungsstand stärke ich mich mit Getränken und Obst, und halte wenig später eine Urkunde in den Händen. Vor der Siegerehrung suche ich die Turnhalle auf und sehe im Spiegel ein Gesicht voller Sand.


Entgegen meiner ursprünglichen Absicht, auf einem Campingplatz in Wernigerode zu übernachten, entscheide ich mich für eine weitere Nacht in der Turnhalle, bin ich doch ziemlich ausgepowert. Außerdem ist Ilsenburg durchaus einen längeren Aufenthalt wert. So kaufe ich erneut im Lidl ein und nehme im Freibad, welches heute kostenlos genutzt werden kann, ein kurzes Sonnenbad. Anschließend spaziere ich durch den beschaulichen Ort und lese bis zum Einbruch der Dunkelheit am Forellenteich. Mit drei weiteren Sportlern verbringe ich die Nacht in der Turnhalle. Um 8:30 Uhr breche ich mit dem Rad auf nach Wernigerode und frühstücke in der malerischen, autofreien Altstadt. Im Sattel geht es weiter nach Halberstadt und schließlich nach Nienhagen (bei Halberstadt), wo ich in den HEX nach Magdeburg nehme, um dort in die S-Bahn nach Demker umzusteigen und schließlich per Rad nach Seehausen zu fahren.


> 1./2. September <