Pfingsten in Beuster

Mit ein paar Minuten Verspätung trete ich in die Pedalen und treffe kurz vor halb Eins am Seehäuser Friedhof als vereinbartem Treffpunkt auf Ines, Marcel und Kai. Sie stehen schon in den Startlöchern und können es kaum erwarten, loszuradeln. So schwingen wir uns nach der Begrüßung und einem Austausch über die jeweilige mittägliche Stärkung in die Sättel, nicht ahnend, dass wir heute Nacht an diesen Ort zurückkehren werden, um über das Friedhofsgelände zu schlendern. Da der Wind heute aus südlichen Richtungen weht, kommen wir auf unserer Fahrt Richtung Beuster schnell voran.


Tatsächlich erreichen wir die sogenannte FDJ-Kreuzung, an der es von der alten B189 nach Esack geht, ohne ein Stück Plastik aus Fahrradspeichen pulen zu müssen. Auch ein Wildschein-Duo, wie es vor zwei Jahren unweit vor uns die Straßenseite wechselte, bekommen wir heute nicht zu Gesicht. An der FDJ-Kreuzung erinnern übrigens das mit Granitsteinen in die Fahrbahn eingelassene Emblem der Freien Deutschen Jugend sowie der Schriftzug „Strasse der Jugend“ an die von 1958 bis 1960 stattgefundene Wische-Aktion.

In Beuster angekommen, steuern wir direkt den Ortsteil Werder an. Unser Ziel ist der Rosengarten, in welchen Carmen Marquardt am heutigen Pfingstsamstag im Rahmen der Kultourspur einlädt. Da wir zu früh sind, öffnen wir spontan das Tor zu Annettes und Jürgens kleinem Elb-Idyll, um uns am Ufer der Alten Elbe die Zeit zu vertreiben. Zwar sitzen wir hier in sehr windexponierter Lage, doch verbringen wir bei angeregter Unterhaltung ein paar schöne Stunden. Letztlich wird es uns doch zu böig, und wir verlassen das ansonsten idyllische Fleckchen Erde, nachdem Ines ihr Revier markiert hat. Da sich eine große Gruppe von Kanuten vom herausfordernden Wind nicht davon abhalten lässt, den kleinen Strom entlangzupaddeln, dauert es allerdings eine Weile, bis sie - von der Wasserseite unbeobachtet - dazu Gelegenheit hat.

Nachdem wir Annette und Jürgen eine Nachricht hinterlassen, radeln wir die Auffahrt zum Rosencafé hinauf. Leckeren Kuchen wollen wir hier essen, doch der anlässlich der Livemusik von 'PR-Duo' geforderte Eintrittspreis macht uns einen Strich durch die Rechnung. Unentschlossen darüber, ob wir die 5 Euro bezahlen wollen, schieben wir unsere Räder ein Stück weiter in die Sonne. Unter dem Blauglockenbaum entscheiden wir uns schließlich gegen einen Besuch des hiesigen Sommerfestes, und radeln schließlich zum Imker, der heute ebenfalls Gäste empfängt.

Das Grundstück von Herrn Spillner liegt direkt am Deich. Dass es nicht eingezäunt ist, macht sofort sympathisch, und so gelangen wir nach dem Ablegen unserer Räder direkt an die Kaffeetafel. Einige Gäste genießen gerade Kaffee und Kuchen, während andere mit dem Deichimker vor einem Bienen-Schaukasten stehen. Wir bedienen uns am Kuchenbuffet und nehmen an einem Holztisch in der Sonne Platz. Ines kann ihre Begeisterung für das blümchenbemusterte Kaffeegeschirr nicht zurückhalten. In Grenzen hält sich hingegen die Freude über das, was auf dem Teller liegt. Nachdem die sehr übersichtlichen Kuchenstücke verputzt sind und der Gastgeber Ines' Lob für das besagte Geschirr entgegennimmt, schreiten wir zum Bienen-Schaukasten. Angefangen vom unteren Bereich, dem Brutraum, bis zum oberen Bereich, dem Honigraum, erfahren wir Interessantes zum Aufbau eines Bienenstocks. Hinter der Scheibe wimmelt es von den sozial lebenden Insekten. Jede hat ihre Aufgabe, schafft Nahrung ran, lagert diese ein, putzt oder legt Eier.

Weiter geht es zu den richtigen Bienenstöcken, die unweit entfernt stehen und das Zuhause Tausender Nektar- und Pollensammler sind. Weniger als zwei Meter beträgt der Abstand zwischen uns und den sechs - auch Beute genannten - Honigbienenbehausungen, als Herr Spillner einen der Deckel öffnet, um uns die einzelnen Bienenwaben zu zeigen. Im Insektenvolk bleibt es währenddessen vergleichsweise ruhig, von uns wird offensichtlich keine Notiz genommen. Wir staunen, als wir erfahren, dass die Honigbienen die Wabengebilde selbst errichten. Unglaublich, wie präzise die sechseckigen Zellen gebaut sind. Hier sind Perfektionisten am Werk. Als Baumaterial dient Wachs, welches die Bienen mit den Wachsdrüsen ihres Körpers produzieren.

Ohne Opfer eines Bienenstichs geworden zu sein, folgen wir Herrn Spillner zum Wachsschmelzer. In diesen legt er Waben, um Wachs zu ernten. Später erfahren wir, dass er das Wachs verschickt und als Tauschobjekt Mittelwände erhält, welche er wiederum als Wabengrundlage verwendet. Nachdem wir für ein Zeitungsfoto in die Kamera lächeln, führt uns der Deichimker in seinen Keller zur Honigschleuder. In diese hängt er zwei Honigwaben ein und demonstriert uns und zwei weiteren Kultourspur-Besuchern, wie die infolge der Drehung entstehende Fliehkraft den Honig aus den Waben schleudert. Auf seine Frage, ob wir frisch geschleuderten Honig mit nach Hause nehmen möchten, erhält der Deichimker aus aller Munde ein 'Ja', und so schauen wir zu, wie der Honig fließt und Glas für Glas füllt.

Zurück im Garten erschrecken wir, als wir auf die Uhr schauen. Über zwei Stunden ließ uns der Deichimker an seiner 'Honig-Welt' teilhaben. Wir bedanken uns für die Gastfreundschaft und sind froh, um eine interessante Erfahrung reicher zu sein. Mit neu getanktem Wissen radeln wir ein Stück am Deich entlang und steuern anschließend den Hofladen der Familie Schuster an. Während Marcel auf der Außenbank ein großes Stück Torte verdrückt, verdrücke ich mich auf die Toilette. Weiter geht es zur Kirche St. Nikolaus, einem weiteren Veranstaltungsort im Rahmen der Kultourspur. Bei unserer Ankunft ist das hiesige Konzert bereits vorbei, und so halten wir uns nur wenige Minuten im Gotteshaus auf.

Da wir einiges an Proviant mitführen, machen wir auf dem Deich ein Picknick, bevor wir erneut nach Werder fahren, um nochmal im Rosengarten vorbeizuschauen. Die Band baut gerade ab, als wir den Hof betreten, der nur noch eine Handvoll Gäste zählt. Es scheint, als schließe das Café gleich, doch begrüßt man uns freundlich und fragt uns, ob wir an Gegrilltem interessiert seien. Wir bejahen und nehmen nach einer kurzen Fotosession unter einer Birke sowie einem Spaziergang durch den Garten unweit des Grills Platz. Zwei freundliche Herren tischen ordentlich auf und so lassen wir uns Bratwürste, Steaks und krosses Toastbrot schmecken. Einer der Herren setzt sich zu uns, als er erfährt, dass Marcel und Kai in Kürze in die Türkei fliegen werden. Als jahrelanger Türkei-Urlauber schwärmt er von dem Land, in welchem man einander mit „Şerefe!“ zuprostet. Er rät dazu, bei beabsichtigten Käufen vor Ort unbedingt zu feilschen. Es gehöre einfach dazu, zunächst etwa ein Drittel des verlangten Preises zu bieten.

Umgeben von freundlichem Service und einer sympathischen Café-Inhaberin fühlen wir uns wohl, staunen allerdings nicht schlecht, als uns die Rechnung präsentiert wird. Wir hätten im Vorfeld besser nach den Preisen fragen sollen, denken wir uns, denn das Grillgut schlägt mit 3,50 Euro pro Steak ordentlich zu Buche. Mit vollem Magen und leerer Brieftasche radeln wir nach einem erlebnisreichen Tag durch die Dunkelheit nach Seehausen. Einen spontanen Zwischenstopp legen wir am Friedhof ein und besuchen die Gräber unserer Lieben, bevor wir uns verabschieden und für das erste Juli-Wochenende wiederverabreden.



Mit dem Fernbus nach Hendaye/Irún

14.-16.4. Seehausen → Hendaye/Irún

Um 19:21 Uhr wird der Zug abfahren. Wo bleibt die Zeit, frage ich mich, während ich – wie immer – zum Bahnhof eile. Auf die Teilnahme am 10-Kilometer-Lauf in Tangermünde am heutigen Sonntagvormittag oder den Chor-Auftritt am Nachmittag, wahrscheinlich eher beides, hätte ich doch wohl besser verzichten sollen. Dass das Ausräumen, der Transport sowie das vorübergehende Unterstellen meines bisher noch in der Wohnung verbliebenen Hab und Gutes im elterlichen Keller doch soviel Zeit frisst, hatte ich auch unterschätzt. Missplanung rächt sich, und so darf ich mich nun von meinem stets die Uhrzeit im Auge behaltenden und damit sehr gut organisierten Vater zum Seehäuser Bahnhof fahren lassen, ein Umstand, der mir zwar nicht gefällt, andererseits lässt er mich rechtzeitig die Bahn erreichen. In der Hoffnung, alles einigermaßen vernünftig hinterlassen und nichts Wichtiges für meinen bevorstehenden Camino vergessen zu haben, nehme ich in der S1 Richtung Stendal Platz. Der mir fremden Schaffnerin komme mein Gesicht bekannt vor, verrät mir die freundliche Dame in Uniform, und meint, es in Arendsee schon einmal gesehen zu haben, was angesichts meines dort lebenden Zwillingsbruders durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Nach den zwei Zwangspausen in Stendal und Wolfsburg schreite ich gegen 22:15 Uhr großen Schrittes vom Hannoveraner Hauptbahnhof zum benachbarten ZOB, um den Eurolines-Bus Richtung Paris zu erwischen. Zunächst orientierungslos suche ich den entsprechenden Abfahrtsbereich und wandere mit meinen Augen über die Anzeigetafel. Obwohl ich mich offensichtlich am richtigen Terminal befinde, spüre ich Unsicherheit, denn der Bus ist trotz sehr baldiger Abfahrtszeit nicht da und die Zahl der wartenden Fahrgäste ist sehr übersichtlich. Die Wartezeit vertreibe ich mir, indem ich die um mich herum stehenden Personen, nach meiner Einschätzung zumeist Osteuropäer und Franzosen mit afrikanischen Wurzeln, beobachte. Nach Ankunft des Busses und einem prüfenden Blick des Busfahrers auf die Fahrgastliste, woraufhin mich dieser mit 'Marco Polo' anspricht, trete ich lächelnd durch die hintere Bustür. Mist, denke ich mir, als ich keinen freien Platz sichten kann. Da ruft es von vorn, dass ich bitte nach vorn kommen möchte, wo mir der Busfahrer einen Platz in der ersten Reihe anbietet. Was für ein Glück ich doch habe, denke ich mir, als ich meinen Beutel auf dem freien Platz neben mir ablege und freie Sicht nach vorn genieße. Auf dem Doppelplatz links des Ganges liegen Taschen, die vermutlich dem zweiten Busfahrer gehören. Ich vermute, dass sich dieser bei Abfahrt des Busses neben mich setzen wird, doch nimmt er schließlich hinter dem Fahrersitz Platz. Da es sich bei beiden Busfahrern offensichtlich um Polen oder Tschechen handelt, verstehe ich nichts von dem, worüber sie sich während der Fahrt unterhalten. Das finde ich insofern positiv, als dass ich dadurch besser einschlafen kann. Nahezu pünktlich trifft der Bus um 10 Uhr in Paris Gallieni-gare routiere internationale ein. Da mir bis zur Abfahrt des nächsten Busses um 21 Uhr viel Zeit bleibt, suche ich zunächst eine Decathlon-Filiale auf. An den Straßenrändern liegt viel Müll. Die umzäunten Wohnanlagen erinnern mich an Kolumbien. Ohne ein Zelt für den Camino gekauft zu haben, verlasse ich den Decathlon-Store und gehe in den Park Vincennes, wo ich bei strahlendem Sonnenschein und umgeben von lautstarkem Wasservögel-Geschnatter eine Brotzeit einlege.

Unweit des Bahnhofs Bercy-Seine setze ich mich auf eine Bank und werde kurz darauf von einem Passanten gefragt, ob ich schon wüsste, dass Notre Dame in Flammen steht. Auf Englisch antworte ich ihm, dass er wohl einen Scherz macht, was er verneint. Um die Rauchschwaden zu sehen, müsste ich nur einige Meter weiter auf die nächste Brücke gehen. Nun bin ich doch neugierig geworden und nähere mich Stufe für Stufe der Brücke, auf welcher sich bereits mehrere Menschen versammelten und Richtung Norden schauen. Tatsächlich füllt sich der Himmel mit Rauch, der aus dem Dach der Kathedrale emporsteigt. Der Schock bei den um mich herum stehenden Franzosen ist spürbar, nicht wenige scheinen den Tränen nahe. Mit der Frage, ob die Mitreisenden von dieser Katastrophe bereits wissen, steige ich in den Ouibus-Bus und nehme auf dem mir vom Busfahrer zugewiesenen Platz 7D Platz. Nach etwa 13-stündiger Fahrt und mehreren Zwischenstopps bin ich einer der letzten Fahrgäste, die den Bus verlassen. Bis Spanien sind es nur wenige hundert Meter, und so lasse ich nach wenigen Gehminuten den Grenzort Hendaye und somit das französische Baskenland hinter mir und erreiche nach dem Überqueren des Flusses Bidasoa Irún.

Weil die Informationstafel im Zentrum schlecht lesbar ist, frage ich einen Passanten nach dem Weg zur Albergue, woraufhin mich der Mann in Richtung Hügel schickt. Etwas irritiert bin ich, da ich die Albergue dort nicht vermutet habe, setze mich trotzdem in Richtung Hügel in Bewegung, als ich von einem anderen Passanten eingeholt werde. Dieser erzählt mir, dass ich falsch informiert wurde und begleitet mich schließlich zur Albergue. Ich habe Glück, denn der Herbergs-Vater ist gerade vor Ort. Er meint, dass ich mein Gepäck bis zur Öffnung am Nachmittag in der Albergue lassen könnte, doch ich bin mir noch nicht sicher, ob ich in Irún bleibe oder heute noch mit dem Camino starte. Die Entscheidung soll spätestens beim Mittagessen fallen. Zuvor suche ich ein Internet-Café auf und informiere meine Familie über meine Ankunft in Spanien. Im Keller eines Gasthauses wird mir ein menú del peregrino (Pilgermenü) für 9 Euro serviert. Nach dem Verzehr einer einfachen Nudelsuppe, Lomo (Schweinelende) mit Pommes, Pudding und einer Kanne Wasser entscheide ich mich für eine Übernachtung in Irún, kann meinen Rucksack aber nicht in der Albergue unterstellen, da mir niemand öffnet. Samt Rucksack begebe ich mich auf den Weg zur Hafenstadt Hondarribia, deren Stadtstrand toll sein soll - und auch ist. Für ein Bad im Meer ist es mir allerdings viel zu windig. Zurück in der Herberge reihe ich mich in eine Schlange wartender Pilger ein. Oh nein!, denke ich mir, denn ich sehe nur jugendliche Gesichter vor mir. Als ich an der Reihe bin, werde ich freundlich vom Voluntario José Luis begrüßt, der mir eines der insgesamt 60 Betten in einem der drei Schlafsäle zuteilt. Die anfängliche Befürchtung, nur von Jugendlichen umgeben zu sein, bewahrheitet sich zum Glück nicht. Geduscht kaufe ich für das Abendessen ein und komme im Speisesaal mit Santiago aus Argentinien ins Gespräch. Später gesellt sich Sandra aus Deutschland dazu, doch viel Zeit zum Erzählen bleibt nicht, denn um 22 Uhr beginnt die Nachtruhe.

Brockenlauf


Bis Stendal fahre ich mit dem Rad, vom Barleber See über Oschersleben (Bode) bis Darlingerode nutze ich drei Hopper-Tickets, und die letzten Kilometer bis Ilsenburg schwinge ich mich wieder aufs Rad. Das ist mein Plan. Um rechtzeitig zur beginnenden Nachtruhe um 22 Uhr in der Ilsenburger Turnhalle anzukommen, beginnt meine Anreise gegen 12:45 Uhr. In Ziegenhagen angekommen, liegt genau eine Stunde Radfahrt hinter mir. Es ist kaum windig, sodass ich gut vorankomme. Den kurzen Zwischenstopp beim Bäcker hätte ich allerdings doch besser nicht gemacht, denke ich mir, als ich auf dem Weg durch die Stendaler Innenstadt eifrig in die Pedalen trete. Schließlich gilt es am Bahnhof noch ein Ticket zu lösen. Eilig suche ich das Bahnhofsinnere auf und drängele mich am Automaten freundlich vor. Es sind nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt des Zuges und der Automat will keinen meiner 5-Euro-Scheine akzeptieren. Verärgert trage ich mein Rad die Treppe hinunter und wieder hinauf, schaffe es in allerletzter Minute in die S-Bahn und suche sofort die Zugbegleiterin auf. Diese weist mich zunächst zurecht, händigt mir jedoch freundlicherweise das gewünschte Hopper-Ticket zum Normalpreis aus. Dank der angeregten Unterhaltung mit einer betagten Radfahrerin, die beim Passieren von Zielitz über die Abraumhalden des Kaliwerkes staunt, sind die 50 km bis zur Haltestelle Barleber See gefühlt in wenigen Minuten zurückgelegt.


Statt mein beidseits beladenes Rad über die Brücke zu hieven, trage ich es über die Gleisen und fahre in Richtung Barleber Seenlandschaft. Den Barleber See I lasse ich links liegen, denn ich ziehe vor, im Barleber See II zu baden, der laut meiner Recherche eine natürlichere Badeumgebung bietet. Nach einigem Suchen finde ich schließlich eine sonnige Stelle und begebe mich ins Wasser, um Sekunden später einen Schwan mit zwei großen Küken zu entdecken, die direkt auf mich zusteuern. Das war ein kurzes Vergnügen, denke ich, als ich mit reichlich Schlick unter den Füßen wieder Land gewinne. Wenn zwischen mir und dem Schwan kein Meter Höhenunterschied läge, würde er mich sicherlich vom Ufer verjagen. Sein Revier verteidigend, harrt er mit seinen Jungen geduldig aus, bis ich mir schließlich wieder die Kleider überwerfe und von dannen ziehe. Da mir die anderen vegetationsfreien Uferbereiche aufgrund fehlender Sonne nicht zusagen, entscheide ich mich letztendlich für ein Bad im Barleber See I, den ich heute nur mit einem anderen Badegast teilen muss.

Zurück an der Bahn-Haltestelle, steige ich in die S-Bahn, erwerbe ein weiteres Ticket und steige in Magdeburg-Buckau um. Mit Verspätung setzt sich der HarzElbeExpress in Bewegung. In Oschersleben löse ich das dritte Hopper-Ticket und steige in einen verspätet ankommenden HEX. Hätte ich dem Zugpersonal doch besser zugehört, ärgere ich mich, als ich beim erforderlichen Umstieg in Halberstadt nicht rechtzeitig das richtige Gleis finde und sich der HEX Richtung Darlingerode ohne mich auf den Weg macht. Ob ich es noch rechtzeitig zur Nachtruhe schaffe? Gedanklich sehe ich mich schon auf dem Rad durch das dämmernde Harzvorland fahren. Drei Bahnangestellte raten mir, die nächste Verbindung zu nehmen. Die Wartezeit im 2011 in der Kategorie Kleinstadtbahnhof als 'Bahnhof des Jahres' ausgezeichneten und seit 2014 den Namen 'Kulturbahnhof' tragenden Bahnhof vertreibe ich mir mit einem Döner, dessen Fleisch bereits kalt ist. Zwar gilt mein Ticket nur bis Darlingerode, doch fahre ich bis Ilsenburg weiter, denn auf eine Radfahrt in einer dunklen, mir unbekannten Gegend habe ich heute keine Lust. Außerdem würde das zu viel Zeit fressen.

Am Ilsenburger Bahnhof frage ich nach dem Weg zur Turnhalle, die ich kurz vor 22 Uhr erreiche. Das Licht ist bereits aus, doch durch die von draußen hereinallende Straßenbeleuchtung erkenne ich neben der Tür einen Stapel aus vier Gymnastikmatten, während die anderen Matten in der kleinen Halle verteilt liegen, teilweise bereits mit schlafenden Körpern beschwert. Meine Isomatte brauche ich also nicht ins Freie kramen. Einige Sportler befinden sich sicherlich im Haus der Vereine, wo Doppel-Olympiasieger Walter Cierpinski heute einen Vortrag hält. Froh darüber, noch ein freies Plätzchen bekommen zu haben, dusche ich, bevor ich drei bayrischen Dialekt sprechenden Sportlern die verbliebenen drei Matten reiche. Eine schnarchlose Nacht wäre auch zu schön gewesen, denke ich mir, als ich wenig später ein lautes Schnarchen vernehme. Ich sehe, wie eine Frau mit ihrem Schlafsack in den Umkleideraum umzieht. Kurz danach verlässt der Mann neben mir seinen Schlafplatz. Im Auto schläft es sich vermutlich ruhiger.

Trotz Ohropax nicht wirklich ausgeschlafen begebe ich mich gegen 8 Uhr zum Rathaus, um meine Startunterlagen abzuholen. Den eigens mitgebrachten Kabelbinder werde ich nicht brauchen, stelle ich fest, als ich lese, dass der Transponder am Handgelenk zu befestigen ist. Beim Tangermünder Lichterlauf vor zwei Wochen löste sich das Gerät vom Schuh, da ich es an dem Schnellschnürsystem meines Salomon-Schuhs offensichtlich nicht fest genug angebracht hatte. Infolgedessen hatte ich mir nun einen Kabelbinder besorgt, der heute jedoch nicht zum Einsatz kommen wird. Mit einem 20 Euro-Schein, den ich auf dem Ilsenburger Marktplatz finde, begebe ich mich auf den Weg zum Lidl. Meinen Einkauf frühstücke ich auf einer Bank am Forellenteich. Auf dem Marktplatz herrscht bereits großer Trubel. Neben dem 48. Brockenlauf richtet Ilsenburg dieses Jahr auch die Deutsche Meisterschaft im Berglauf aus. Den Läufern, die an letzterem teilnehmen, steht ab 9:30 Uhr eine Strecke von 11,7 km bevor. 20 Minuten später starte ich als einer von 534 Brockenläufern, die sich für die 26.2 km lange Strecke und eine Bewältigung von 890 Höhenmetern angemeldet haben. Richtung Berg verabschiedet uns ein applaudierendes Publikum, in dessen Reihen sich neben dem Veranstalter auch Innenminister Holger Stahlknecht befindet.

Zunächst geht es bei minimalem Anstieg aus der mittelalterlichen Stadt heraus. Auf gut ausgebauten Forstwegen mit moderater Steigung passieren wir nach zwei Kilometern den Ilsestein, das Wahrzeichen Ilsenburgs. Die Strecke führt nun entlang der Ilse, die gemächlich vor sich hin plätschert. Nachdem Pasternosterklippe, Loddenke sowie die Ilsefälle hinter uns liegen, wird es ab dem sechsten Kilometer anspruchsvoll. Ein Untergrund aus Schotter und eine zunehmende Steigung bremsen nicht nur mein Tempo. Für einige hundert Meter ist der Weg so schmal, dass ein Überholen kaum möglich ist. Umgeben von alten Bäumen tanke ich nach sechseinhalb Kilometern an der ersten Verpflegungsstelle auf. Auf der Hermannchaussee (Hermannsklippe) laufen nur noch die wenigsten. Auch ich schalte einen Gang zurück und bewältige die Steigung mit großen Schritten. Viele Läufer überhole ich dabei und erreiche schließlich den ehemaligen Kolonnenweg. Nach 1:34 h erreiche ich den 12,1 km entfernten, 1141 Meter hohen Gipfel. Das Wetter spielt mit und ermöglicht herrliche Ausblicke. Der Brockenhexe strecke ich meinen Hintern entgegen, damit sie ihres Amtes walten und mich vom Berg fegen kann. Den Gedanken, hier oben für einen Moment zu verweilen, verabschiede ich schnell, denn mir geht es gut und ich will weiter laufen.

Bergab geht es nun zunächst auf asphaltiertem Untergrund, auf welchem mir sehr viele Wanderer begegnen. Nach Erreichen der ersten Verpflegungsstation bei Kilometer 16 spüre ich erstmals ein Ziehen in meinen Waden. Ich laufe weiter, doch verlangsame ich später das Tempo und gehe schließlich, um ausgeprägte Krämpfe zu verhindern. Ich bin umgeben von einer Landschaft, die von trockenen Fichten dominiert wird. Ein Läufer, den ich kurz zuvor überholt hatte, als er ging, holt mich schließlich ein und mutmaßt den Grund meiner Gehpause. Er meint, Wadenkrämpfe zwingen ihn zu Gehpausen. Er hätte in den vergangenen Wochen nicht ausreichend trainiert. Ich stelle fest, dass ich das Bergablaufen unterschätzt habe. Nach einer längeren Gehpause und vielen Läufern, die mich überholen, wechsele ich wie der ins Lauftempo. Mich holt ein Läufer ein, dessen Tempo genau meinem entspricht, und so laufen wir Seite an Seite. Ohne miteinander zu kommunizieren, laufen wir mehrere Kilometer nebeneinander und obwohl noch einige Kilometer vor uns liegen, sehe ich uns schon gemeinsam im Zieleinlauf. Kurz vor dem Erreichen Ilsenburgs fällt mein Mitläufer jedoch zurück, sodass ich den Marktplatz allein erreiche und nach 3:00:26 erschöpft, zufrieden und schmerzfrei durchs Ziel laufe. Sofort wird mir der Transponder abgenommen und ich erhalte ein kleines Papier mit den gemessenen Zeiten. Am Verpflegungsstand stärke ich mich mit Getränken und Obst, und halte wenig später eine Urkunde in den Händen. Vor der Siegerehrung suche ich die Turnhalle auf und sehe im Spiegel ein Gesicht voller Sand.


Entgegen meiner ursprünglichen Absicht, auf einem Campingplatz in Wernigerode zu übernachten, entscheide ich mich für eine weitere Nacht in der Turnhalle, bin ich doch ziemlich ausgepowert. Außerdem ist Ilsenburg durchaus einen längeren Aufenthalt wert. So kaufe ich erneut im Lidl ein und nehme im Freibad, welches heute kostenlos genutzt werden kann, ein kurzes Sonnenbad. Anschließend spaziere ich durch den beschaulichen Ort und lese bis zum Einbruch der Dunkelheit am Forellenteich. Mit drei weiteren Sportlern verbringe ich die Nacht in der Turnhalle. Um 8:30 Uhr breche ich mit dem Rad auf nach Wernigerode und frühstücke in der malerischen, autofreien Altstadt. Im Sattel geht es weiter nach Halberstadt und schließlich nach Nienhagen (bei Halberstadt), wo ich in den HEX nach Magdeburg nehme, um dort in die S-Bahn nach Demker umzusteigen und schließlich per Rad nach Seehausen zu fahren.


> 1./2. September <

Zelten am Kulkwitzer See in Leipzig

Marcel und Kai holen mich am Freitagabend ab. Mit voll beladenem Kofferraum und frisch geernteten Kirschen machen wir uns auf in Richtung Leipzig. Die Tore der Stadt bereits erreicht, informiert uns Gastgeberin Ines, dass noch ein Parkplatz vor dem Haus frei ist. Dem ist auch bei unserer Ankunft noch so, sodass wir binnen weniger Minuten am gedeckten Tisch Platz nehmen. Von der freundlichen Hausherrin bekommen wir Kürbissuppe serviert, die so lecker ist, dass ich meine Schüssel zwei weitere Male fülle. Mit vollen Mägen schmeißen wir uns zunächst auf die Couch und nach einem Austausch über die jüngste Vergangenheit schließlich in die Federn. Beim Frühstück, welches keine Wünsche offen lässt, entscheiden wir uns für das Zelten am Kulkwitzer See, der sich am westlichen Stadtrand Leipzigs befindet. Uns vier ins voll bepackte Auto gepresst, halten wir nach wenigen hundert Metern am Supermarkt und stopfen unsere Einkäufe in die spärlich vorhandenen Freiräume.

Trotz Navi finden wir die Einfahrt zum Campingplatz am 'Kulki' zunächst nicht und irren ein wenig umher. Auch das noch, denken wir uns, als wir plötzlich auf einem Schild, welches an einem Alleebaum hängt, lesen, dass der Campingplatz bereits voll ist. Wir ignorieren diese Information und halten vor der geschlossenen Schranke des Campinggeländes, welches auf einer Halbinsel liegt. An der Rezeption erhalten wir den Vorschlag, während der Mittagspause auf dem Gelände einen freien Platz zu suchen. Über die Areale A, B und C schlendernd, identifizieren wir zwei Stellplätze, die uns zusagen. Da noch Mittagspause ist, vertreiben wir uns die Zeit am Seeufer unweit der Tauchstation. Hier ist es uns aber doch zu schattig, sodass wir auf eine sonnenverwöhnte Wiese flüchten, auf der wir einen Teil unserer mitgebrachten Schokoladenvorräte vertilgen. In der Check-In-Schlange stehend, weise ich einen anderen Campinggast zurecht, der versucht, sich vorzudrängeln. Dass dieser kein einfacher Zeitgenosse ist, erleben wir wenig später als Zeugen einer lautstarken Auseinandersetzung zwischen ihm und einer sich schließlich durchsetzenden Rezeptionistin. Nachdem wir neben einer Finnhütte unsere zwei Zelte aufgeschlagen haben, gehen wir erneut zum Seeufer und machen es uns auf der Höhe des Schiffrestaurants bequem. Sowohl die Liegefläche als auch der Uferboden sind zwar ziemlich steinig, doch ist es im Vergleich zu den Uferabschnitten am Rettungsturm wesentlich ruhiger. Durch die Ufervegetation sehen wir die im nördlichen Seebereich über das Wasser gleitenden Wasserskifahrer. Während Marcel und Kai es vorziehen, am Ufer zu liegen, genießen Ines und ich das glasklare Wasser des 'Kulki' sowie die uns einander zuwerfenden Algenpackungen.

Am Abend bestellen wir im Imbiss Seegarten gebratene Nudeln, Bratwurst und Pommes, und werden von einer sehr freundlichen, jungen Frau mit asiatischen Wurzeln bedient. Aus wenigen Metern Entfernung ruft uns eine Frau zu, die uns um Kleingeld erleichtern möchte, was ihr nicht gelingt. Wir werden sie am nächsten Tag wiedersehen. Den späteren Abend verbringen wir am See. Bestens unterhalten fühlen wir uns von einem Pärchen, dessen männlicher Part in Frauenklamotten steckt. Offensichtlich gibt es für das Pärchen heute einen Grund zum Feiern, denn gemeinsam mit Freunden werfen sie sich gegenseitig Wasserbomben zu und bringen selbige dabei lauthals lachend zum Platzen. Auf den ausgebreiteten Decken spielen wir Karten sowie das Kaufhaus- und Arche Noah-Rätsel. Nach einer für Marcel und Kai eher schlaflosen Nacht nehmen wir neben unseren Zelten auf dem Boden sitzend ein im Vergleich zum Vortag einfaches Frühstück ein, das aus mitgebrachtem Kuchen und Kirschen besteht und mit Kaffee vom Imbiss nebenan heruntergespült wird. Wir entscheiden uns gegen eine Tretbootfahrt und parken nach Verlassen des Campingplatzes direkt am Seerestaurant, welches offensichtlich seit längerer Zeit kein Gast von innen gesehen hat. Ein paar Stunden sonnen wir uns heute auf der unweit von der gestrigen Liegefläche gelegenen Liegewiese, und spielen Mister X. Zur Mittagszeit kehren wir im Griechischen Restaurant ein. Im schattigen Hof wird es mit der Zeit doch unerwartet kühl, sodass wir mit unserem Tisch der Sonne folgen. Freundliche Kellner servieren uns leckere Speisen, zu denen die mit Salz und Knoblauch gewürzten Bratpaprikas gehören, die mich an die in Portugal gegessenen Pimientos de Padrón erinnern. Kai kann aufgrund seines heute pausierenden Geschmackssinnes sein Essen leider nur bedingt genießen. Bedingt sind auch die Rechenkünste, die der Kellner beim Bezahlen an den Tag legt. Weil es so schön war (und ist), beschließen wir, ein weiteres Mal zum 'Kulki' zu fahren und Sonne zu tanken, bevor wir nach zwei lustigen und erholsamen Tagen am Sonntagnachmittag die Heimfahrt antreten.


> 29. Juni/1. Juli <

Pfingst-Radtour - Von Wittenberge nach Werben

Aus Erfahrung weiß ich, dass ich etwa 45 Minuten für die Fahrt von Seehausen nach Wittenberge brauche, und schwinge mich nach dem Gießen meiner durstigen Tomatenpflänzchen am Samstag gegen 8.30 Uhr auf mein Rad. Gerade einmal ein paar Meter auf dem Aland-Deich unterwegs, sehe ich direkt vor mir fünf Weißstörche auf dem gepflasterten Weg stehen. Ein schöner Anblick, denke ich, als sie mir schließlich Platz machen und sich in die Lüfte begeben. Sicher werde ich heute noch weitere Exemplare zu Gesicht bekommen, freue ich mich, denn unsere geplante Radtour wird uns durch das Storchendorf Rühstädt führen. Doch bis dahin dauert es noch eine Weile, und so halte ich, neugierig nach links und rechts blickend, weiter nach tierischen Bewohnern der Feldmark Ausschau. Auf die Straße brauche ich mich kaum zu konzentrieren, habe ich sie heute doch offensichtlich ganz für mich allein. Zu meiner Rechten entdecke ich einen Fasan, und erinnere mich, dass ich letztes Jahr etwa um die selbe Zeit an der Schönberger Straße ein Exemplar gesichtet hatte. Ich erfreue mich an den blühenden Wegrändern und erschrecke, als kurz vor Geestgottberg auf der linken Seite ein Reh durchs hohe Gras huscht. Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass ich gut in der Zeit liege, und so überlege ich, meinen Radtour-Gefährten einige der hübschen Wiesen-Margeriten als kleines Souvenir mitzubringen. Da ich aber am vereinbarten Treffpunkt mein Frühstück nachholen und an der Tankstelle den Reifendruck überprüfen möchte, was doch ein wenig Zeit frisst, entscheide ich mich, die Pflänzchen stehen zu lassen.

Ohne Dekoration am Rad lasse ich den Hügel zwischen der alten Wittenberger Straße und der B189 hinter mir, überquere die Elbe und erreiche schließlich Wittenberge. Das kann doch nicht wahr sein, fluche ich, als bei der Luftdruckmessung an der Tankstelle plötzlich die Luft aus dem Reifen entweicht. Ich ärgere mich, mich vorab nicht mit der für mich fremden Ventil-Art beschäftigt zu haben und sehe mich in Gedanken mein Rad zum nächstgelegenen Fahrradgeschäft schieben. Der Zufall meint es heute aber gut mit mir und lässt mich nur wenige Meter von der Tankstelle entfernt drei Radfahrern begegnen, die mir schließlich erklären, dass der kleine Stift im Ventil gedrückt werden muss. Mist, denke ich mir, darüber hatte ich tatsächlich mal etwas gelesen. Erleichtert bedanke ich mich und stehe einige Minuten nach der vereinbarten Zeit Ines und Franny gegenüber, die etwas mehr als 30 Minuten Busluft schnupperten. Wo Marcel sei, fragen sie mich, wenig überrascht von seiner fehlenden Gegenwart. Ich lasse sie wissen, was ich selbst erst wenige Minuten zuvor durch ein Telefongespräch erfahren habe. In etwa 20 Minuten wird er am Treffpunkt sein. Die Sonne lacht uns entgegen, freuen wir uns, als Marcel und Kai schließlich eintreffen. Bisher war der Himmel sehr wolkenverhangen. Nachdem Marcel sein Rad ins Freie gekramt hat und wir uns von Kai verabschiedeten, treten wir gegen 10 Uhr schließlich gemeinsam in die Pedalen und schieben unsere Räder nahe der Elbbrücke auf die Deichkrone. Wir erinnern uns, dass wir vor knapp zwei Jahren ebenfalls am rechten Elbufer fuhren, allerdings flussabwärts, und sind zuversichtlich, flussaufwärts auf einem ebenso gut ausgebauten Radweg unterwegs zu sein. Vor uns liegen knapp 50 km.

Wir schaffen es tatsächlich, die Gaststätte zum Fährmann zu passieren, ohne einzukehren. Stattdessen machen wir auf der Höhe Schade-Beuster unsere erste Rast. Neben einer Sitzbank breiten wir unsere Decken aus und verwöhnen uns mit einem ausgiebigen Frühstück aus Karotten, Gurken, Oblaten, Eiern etc. Viele Radfahrer passieren unser kleines Frühstücksidyll. Gut gestärkt schwingen wir uns wieder in die Sättel und erreichen den Wittenberger Ortsteil Hinzdorf. Eine Informationstafel gibt Auskunft über die Kopfweiden, die in der Elbtalaue zahlreich zu finden sind und einst einen wichtigen Wirtschaftszweig der Region darstellten. Ohne im Pfannkuchenhaus vorbeizuschauen, verlassen wir den Ort, an dessen Ausgang ich meinem Gesicht eine Schicht Sonnenmilch gönne. Vom Aussichtsturm 'Bälower Elbblick' genießen wir eine herrliche Sicht über die weite Elblandschaft. Teppiche aus Kuckuckslichtnelken und Wiesenmargeriten schmücken die Wiesen beidseits des Deich-Radweges. Auch am Fahrrad machen die Blüten eine gute Figur, denke ich mir, und entführe einige von ihnen, bevor ich meinen drei Tour-Gefährten folge, die längst auf den Plattenweg in Richtung Rühstädt abgebogen sind.

Zwar werden die hübschen Mitbringsel freudig in Empfang genommen und am Rad positioniert, doch erhalten die Blumen nur kurz Aufmerksamkeit, denn da wir uns am Fuße des Walter-Fritze-Fotopunktes befinden, stehlen ihnen die berühmtesten Bewohner Rühstädts die Show. Um einige der etwa 30 Weißstorchenpaare, die hier, im Europäischen Storchendorf, jedes Jahr ihre Jungen groß ziehen, zu beobachten, schreiten wir die Treppe zum Balkon hinauf. Zahlreiche Horste thronen auf den Dächern der umliegenden Gebäude. Allein auf einem der Dächer zählen wir vier Horste. Die aufmerksame Franny gewinnt schnell den Eindruck, dass es sich bei einem der Horstbesetzer um eine Attrappe handelt, rührt sich der Vogel doch kein bisschen. Die Frage, woher die Legende stammt, dass Meister Adebar die Babys bringt, taucht plötzlich auf, ohne dass sich eine Antwort darauf findet. Später werde ich lesen, dass diese Geschichte hierzulande im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm, als Sexualität ein gesellschaftliches Tabuthema war und Eltern bei der Aufklärung ihrer Sprösslinge entsprechend kreativ wurden. Beim Durchfahren Rühstädts passieren wir mehrere Tafeln, die mit Fotos und Geschichten über den Alltag früherer Zeiten informieren.

Groß ist die Enttäuschung bei den Kaffee-Junkies unter uns, da keines der im Ort befindlichen Lokale aufgrund geschlossener Gesellschaften geöffnet ist. So verweilen wir einige Minuten vor dem 'Landgasthaus Storchenkrug' und treffen auf andere, ebenso unzufriedene Radwanderer. Die Suche nach einem stillen Örtchen führt uns schließlich zum vom NABU Brandenburg betriebenen Besucherzentrum, wo sich die Gelegenheit bietet, den Kaffeedurst mit Kaffee aus dem Automaten zu stillen. Wir entscheiden uns gegen eine geführte Wanderung und fahren weiter Richtung Gnevsdorf, wo die Havel als 10 km langer Kanal, dem Gnevsdorfer Vorfluter, in die Elbe mündet. An einer Weggabelung informiert ein Schild über Bauarbeiten auf dem Elberadweg und eine infolgedessen zu fahrende Umleitung. Etwas orientierungslos legen wir eine spontane Pause ein. Die meisten Pedalritter, die an uns vorbeifahren, wirken hinsichtlich der Frage, welchen Weg sie einschlagen sollen, ähnlich unschlüssig, wählen jedoch den direkten Weg über die angebliche Baustelle. Nur ein Radfahrer, der über die aktuelle Lage bestens informiert zu sein scheint, entscheidet sich für die Umleitung. Allein die Tatsache, dass er allein unterwegs ist, veranlasst Franny zu der Äußerung, dass dieser Typ merkwürdig sei.

Wir legen es darauf an, ignorieren das Schild und folgen weiter dem Radweg. Nach der Überquerung eines Wehrs schaue ich mir eine extra für Schwalben gebaute Nesthilfe in Form eines Turmes an. Bald ist die Fähre in Sicht, die wir nach dem Passieren des Gasthauses Mühlenholz gerade noch rechtzeitig vor dem Ablegen erreichen. Zu unserer Überraschung schließt der NP in Werben samstags bereits um 16 Uhr, sodass wir direkt weiter zum Freibad radeln. Hier treffen wir Ingrid, die berichtet, dass sie als Schulmädchen 1968 beim Ausheben des Bades half. Schnell sind eins und eins addiert, und wir lassen uns vom Bademeister bestätigen, dass sich die Einweihung des Freibades im kommenden Jahr zum 50. Mal jährt.

Nach einem erfrischenden Bad suchen wir die hinter dem Freibad in der Bungalowsiedlung gelegene Datsche auf. Schnell sind die Schlaflager zugeordnet und der Grill angefeuert. Wir sind hungrig, liegen doch etwa 50 km Radstrecke hinter uns. Nachdem die Mädels auch den letzten freien Zentimeter ihrer Haut mit Mückenspray versorgen, bringt Marcel das Grillgut auf den Tisch. Mit vollen Mägen begeben wir uns schließlich ins Wohnzimmer, wo wir uns den argentinischen Film 'Wild Tales' ansehen, der entgegen meiner Erwartung nicht allen gefällt, was lautstark zum Ausdruck gebracht wird. Offensichtlich ist die Couch auch zum Schlafen geeignet, denn Marcel macht nach dem Filmende keine Anstalten, sie zu verlassen. Während im Nebenraum Zentimeter für Zentimeter nach potentiellen achtbeinigen Übernachtungsgästen abgesucht wird, schmeiße ich mich in mein Nachtlager. Kaum befinde ich mich in der Waagerechten, beginnt mein Magen zu rumoren. Ganz plötzlich verspüre ich den Drang, das Klo aufzusuchen, springe auf und taste mich ins Bad. Mit Schwindelgefühl verbringe ich hier einige Minuten, ehe ich mich zurück ins Nachtlager schleppe. Vermutlich liegt dieser nächtlichen Attacke ein Hitzeschlag oder Überfressen zugrunde, möglich ist auch eine Kombination von beidem. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn ein Anruf von Vati am frühen Morgen reißt mich aus dem Schlaf. Nach dem Austausch weniger Worte versinkt meine rechte Gesichtshälfte erneut im Kopfkissen, doch entschließe ich mich kurz darauf doch zum Aufstehen.

Mit meinem Handtuch spaziere ich zum nahe gelegenen See. Kaum stehe ich im knietiefen Wasser, nähert sich mir ein Schwanenpärchen, das vermutlich irgendwo in der Nähe sein Gelege hat. Schnellen Schrittes suche ich am Ufer nach einem anderen Zugang zum Wasser, doch die Schwäne folgen mir. Eine Frau, die gerade dabei ist, gemeinsam mit ihren zwei Kindern einen am Bungalow gefundenen Frosch im See auszusetzen, zeigt mir schließlich eine etwas entferntere Stelle, die sich zum Baden eignet. Zwar könnte ich aufgrund einer geringen Seetiefe entlang eines auf dem Seeboden befindlichen Stegs bis ans andere Ufer gehen, doch drehe ich nach wenigen Metern um, denn eine Begegnung mit den Schwänen im Wasser möchte ich lieber vermeiden. Beim gemeinsamen Frühstück philosophieren wir über zukünftige Urlaubsziele und beschließen, sämtliche Ideen in einen Hut zu werfen. Welcher Städtetrip uns als nächstes bevorsteht, entscheidet also das Los! Gegen 12 Uhr brechen wir in Richtung Seehausen auf, treffen uns aber am Abend nochmals im Bungalow.

> 19./20. Mai <

Anpacken in Walsleben, Bummeln durch Neuruppin

Dieses Jahr folgen wir Renés Vorschlag, dem Hausausbauer Tobias einen Besuch abzustatten, und ihm einen Tag lang tatkräftig unter die Arme zu greifen, denn an Arbeit mangelt es laut des Bauherrn in Walsleben keineswegs. Schnell ist mit dem Himmelfahrtswochenende ein für fast alle willigen Bauhelfer geeigneter Termin gefunden, an welchem wir schließlich nicht nur mit anpacken, sondern auch das nahe gelegene Neuruppin erkunden.

Da für den frühen Abend Gewitter angesagt sind, schwinge ich mich kurz nach 10 Uhr auf meinen mit zwei prallgefüllten Fahrradtaschen beladenen Drahtesel. Für die Fahrt bis Walsleben habe ich sechs bis sieben Stunden eingeplant, mehrere kleine Pausen sowie einen Sprung in einen an der Strecke liegenden See eingerechnet. Auf die etwa 75 km lange Route, die vor mir liegt, bin ich sehr gespannt, stellt diese Streckenlänge für mich doch eine Premiere dar. Aufgrund der sehr ausgefahrenen Fahrbahn zwischen Schönberg und Neukirchen entscheide ich mich, über Falkenberg und Lichterfelde zu fahren, und folge ab Wendemark der L2, die mich durch die kleinste Hansestadt der Republik führt. Auf dem Werbener Marktplatz angekommen, nehme ich trotz meiner Kopfhörer das Klingeln meines Telefons wahr, bringe mein Zweirad zum Stehen und krame das Handy ins Freie. Während ich vergeblich in das Telefon brülle und von Tobias kein Wort vernehme, erschrecke ich, als mein Rad plötzlich umfällt und sich mein Obst auf der Straße verteilt. Ich stelle fest, dass sich ein mit zwei vollen Hinterradtaschen beladenes Fahrrad nicht so einfach durch das Anheben des Fahrradsattels zur Seite stellen lässt. Nachdem ich meine Habseligkeiten wieder verstaut und Tobias schließlich erfolgreich Auskunft über meine geplante Ankunftszeit erteilt habe, mache ich mich auf den Weg ins 4 km entfernte Räbel. War ich bisher ausschließlich auf einer asphaltierten Fahrbahn unterwegs, erfordert das Fahren auf dem aus Sand und Split bestehenden Fahrbahnrand Konzentration. Ich habe Glück, denn die Gierseilfähre, die allein durch die Strömung bewegt wird, liegt gerade an der linkselbischen Seite an. Bei herrlichem Sonnenschein lasse ich mich von ihr über den Strom tragen.

Das 'Haus der Flüsse' lasse ich links liegen, lasse die Insel- und Domstadt Havelberg in östlicher Richtung hinter mir, verlasse die L4 und biege in Müggenbusch rechts in die beschattete Straße nach Wöplitz ein. Eine fehlende Beschilderung an einer Weggabelung zwingt mich, mich für einen Weg zu entscheiden. Intuitiv wähle ich den linken, und treffe kurz darauf einen Radfahrer, dem diese Region ebenfalls fremd ist. Nach mehreren Kilometern durch bewaldetes Gebiet stoße ich nahe des Aussichtsturms Lütow an dem Flüsschen Neue Jäglitz auf eine weitere Weggabelung. Von der Info-Tafel erhoffe ich mir Hilfe zur Orientierung, doch werde ich enttäuscht, und schlage stattdessen beim Lesen des Satzes „Der Kranich, welcher dieser ..“ in Gedanken die Hände über dem Kopf zusammen. Gemeinsam mit dem mir bekannten Radfahrer, der mich mittlerweile eingeholt hat, erkundige ich mich bei zwei anderen Pedalrittern nach dem Weg. Dank ihnen vermeide ich es, einen Umweg über Vehlgast zu fahren, und erreiche den Ort Damerow. Hier, kurz vor der Ländergrenze Sachsen-Anhalt/Brandenburg, irre ich orientierungslos umher, bis ich schließlich auf einen Mann treffe, der mir freundlich Auskunft gibt. So erklärt er mir, dass der direkteste Weg nach Neustadt (Dosse) über Joachimshof, Koppenbrück und Goldbeck führt. Darüber, dass ich einen Teil der Strecke aufgrund eines zu sandigen Untergrundes voraussichtlich vom Rad steigen muss, bin ich mir dank seiner Info im Klaren. Von der langen Kopfsteinpflasterstraße mit schmalem und holprigen Randstreifen erfahre ich vom Anwohner, der vermutlich nicht Rad fährt – so lässt es seine voluminöse Erscheinung jedenfalls vermuten – allerdings nichts. In Neustadt (Dosse) angekommen, schaue ich mir die Informationstafel an, und halte anschließend beim Durchfahren des Ortes nach dem örtlichen Freibad sowie dem nahe gelegenen See Ausschau. Da ich beides nicht entdecken kann, folge ich der B102 in Richtung Bückwitz, um mich im Bückwitzer See abzukühlen. Daraus wird wohl nichts, ahne ich, als ich mich der hiesigen Badestelle nähere und bei lautstarker Musik auf eine große Menschenmenge treffe. Zwei vergnügte Passantinnen, die ich anspreche, teilen mir mit, dass es am See keinen weiteren Zugang zum Baden gibt. Allerdings gäbe es in Wusterhausen/Dosse einen großen Badesee, und so setze ich meine Fahrt auf dem die B5 begleitenden Radweg fort.

Im Strandbad Wusterhausen am Klempowsee verweile ich unweit eines sich sonnenden Schwans eine Stunde, bevor ich mich bei zunehmend verdunkelndem Himmel wieder auf mein Rad schwinge. Als die Orte Gartow, Dessow und Lögow hinter mir liegen, biege ich links in das weniger slawisch klingende Walsleben ab. Was für ein Empfang, denke ich mir, als beim Passieren der Dorfkirche ein Blasorchester zu Spielen beginnt. Ich frage mich nach der Bergstraße durch, wundere mich kurz über eine vermeintlich inkonsequente Vergabe der Hausnummern, als ich Tobi plötzlich hinter dem Tor mit der von mir gesuchten Hausnummer entdecke. Freudig begrüßen wir uns, und ich nehme es nicht persönlich, dass Tobis Mutter, Opa und Halbschwester kurz nach meiner Ankunft die Heimfahrt antreten. Eine detaillierte Hausbesichtigung verschieben wir auf später, damit Tobi nach Hennings geplanter Anreise um 20:30 Uhr nicht alles wiederholen muss. Nachdem auch Henne mit Grillgut versorgt wurde und wir von Tobi viel über die vorangegangenen Arbeiten im Haus und am Dach erfahren, verkrieche ich mich gegen Mitternacht ins auf dem benachbarten Grundstück aufgebaute Zelt. Führt Henne im Nachbarzelt ein Selbstgespräch, frage ich mich, als ich ihn wenig später neben mir Portugiesisch sprechen höre. Gegenüber einer leichten Aggression gewinnt schließlich die Neugierde beim Zuhören der mir nicht ganz unbekannten Sprache die Oberhand, und so lasse ich Henne weiter ins entfernte Brasilien telefonieren.
Nachtquartiere
Noch am Abend erzählte uns Tobi, dass sich die Estrichleger für den Freitagmorgen angekündigt haben, und so begegne ich dem Bauherrn und zwei Handwerkern pünktlich um 7:30 Uhr im zukünftigen Wohnzimmer. Dass ich mich so früh auf der Baustelle einfinde, liegt zum einen an meinem Interesse, beim Estrichlegen zuzusehen, zum anderen an der Tatsache, dass sich mein Zelt in der Morgensonne bereits dermaßen aufgeheizt hatte, dass ich es in seinem Inneren nicht mehr aushielt. Zu Tobis positiver Überraschung schreiten die routinierten Handwerker, mit denen wir die vom Bauherrn mitgebrachten belegten Brote hungrig verschlingen, mit ihrer Arbeit schnell voran. Bis zum Mittag werden sie mit dem Wohn- und Schlafzimmer sowie der Küche und dem Flur fertig sein, heißt es, und um sie entsprechend zu entlohnen, fahren Tobi und ich nach Neuruppin zum Geldabheben. Zurück in Walsleben treffen wir auf den mittlerweile ausgeschlafenen Henning, mit dem wir uns schließlich in die Gartenarbeit stürzen, da das Haus heute und in den nächsten Tagen nicht betreten werden darf. Nachdem wir auf dem Innenhof ungeliebtes Wurzelwerk ausgraben, bewaffnen wir uns mit Freischneider und Astschere, und rücken den Brennnesseln sowie Buschwerk im Garten zu Leibe. Über Christians Ankunft sind wir besonders froh, sorgt er doch mit den mitgebrachten Pizzen dafür, dass wir uns für die nächsten Aktionen stärken können. So dauert es nicht lang', und René stößt zur Gruppe, bereit, vom Bauherrn als unbrauchbar oder störend erklärte Gehölze von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Während René auf der Wiese munter seine Säge schwingt, widmen wir uns nach reichlicher Überlegung der einem Hochsicherheitsgefängnis ähnelnden Zaunanlage, welche vom Vorbesitzer vermutlich errichtet wurde, um den Fuchs vom geliebten Federvieh fernzuhalten. Meter für Meter bauen wir eifrig den Maschendrahtzaun zurück und ich scherze laut, dass wir heute keinen Stein mehr auf dem anderen lassen.
Christian amüsiert sich, während René Kleinholz macht
Kreative Pause
Der Zaun muss weg!


Bauherr und Bauherrin zeigen sich sichtlich zufrieden über das Ergebnis des heutigen Schaffens, und so gehen wir zum gemütlichen Teil des Tages über. Dieser findet im von Tobi angemieteten Ferienhaus statt, welches sich nur ein paar Häuser entfernt befindet und seinem früheren Religionslehrer gehört, der wiederum das Nachbarhaus bewohnt. Da der Vermieter gerade urlaubt, lernen wir ihn nicht kennen. Der Postkasten im Nachbarhaus verrät lediglich, dass er taz-Leser ist. Mit ausreichend Grillgut auf dem Teller kehren wir dem Hof des Ferienhauses den Rücken und machen es uns im Esszimmer bequem. Nach dem Leeren zweier 'Kräuter' begeben wir uns ins Wohnzimmer, das uns durch die vorhandene Einrichtung den Eindruck vermittelt, als wären wir gerade als Fremde im Haus einer betagten Frau, die ihre vier Wände nur mal kurz zum Einkaufen verlassen hat. So fragen wir uns, als wir die an der Wand hängenden Bilder von einer Oma und ihren Enkeln betrachten und die Fotoalben der Familie in den Händen halten, ob wir wohl im Badezimmer ihre dritten Zähne vorfinden werden. Angeheitert vom vorherigen Ess- und Trinkgelage schmeißen wir uns auf die äußerst bequeme Couch oder auf den Fußboden, und amüsieren uns über die Bewegungen des Massagestuhls. Getreu dem Motto, man soll aufhören, wenn es am schönsten ist, wirft sich Tobi gegen halb 3 Uhr ins Bett im Nachbarzimmer, und auch wir anderen suchen nach und nach unsere Nachtquartiere auf.
Ferienhaus
Gute Laune am Abend
Tobi als Couchbesetzer ..
.. René bleibt nur der Fußboden
Massagestuhl sorgt für Heiterkeit

Für heute, Samstag, ist eine Fahrt ins etwa 10 km entfernte Neuruppin geplant, und so steigen wir nach dem Frühstück in Omas Esszimmer in Renés Familiengefährt. Nach einem kurzen Zwischenstopp in der vorübergehenden Bleibe von Tobi und seinen drei Mädels, und einem weiteren Halt am Getränkemarkt, leitet uns Tobi ins Zentrum der Fontanestadt. Unweit von der Pfarrkirche St. Marien geparkt, wollen wir einen Blick ins Innere der auch als Veranstaltungszentrum genutzten Kirche werfen, bleiben allerdings vor verschlossener Tür stehen. Wir passieren die ausladende Krone einer Buche und folgen der Karl-Marx-Straße. Den Schulplatz als zentralen Platz der Stadt ziert ein Denkmal von Friedrich Wilhelm II. Statt an die preußische Geschichte denken wir lieber daran, Annika im Blumenladen einen Besuch abzustatten. Ein paar Schritte weiter, an der Ecke des folgenden Blocks, gönnen wir uns in der Paolo Zambon Eisdiele ein leckeres Gelati. Erfrischt biegen wir in den Fontaneplatz ab und spazieren die von einer Allee gesäumte Karl-Liebknecht-Straße entlang, an deren Ende uns Tobi auf seine frühere Schule aufmerksam macht. Auf dem Uferweg flanierend, begegnen wir einem Freund Tobis, den wir später noch einmal wiedertreffen sollen. Bei strahlendem Sonnenschein lassen wir schließlich unseren Blick über den Ruppiner See als mit einer Länge von 14 km längstem See Brandenburgs schweifen. Mit dem Gedanken, im nächsten Jahr irgendwo einen Ausflug per Hausboot zu unternehmen, begeben wir uns wieder in Richtung Innenstadt. Wir lassen die Klosterkirche links liegen, schießen aber in deren Nähe ein Gruppenfoto, um – um es mit Renés Worten zu sagen – „den Verfall zu dokumentieren“. Am Parzival am See, einem 17 Meter hohen Kunstwerk aus Edelstahl, lässt Tobi kein gutes Haar. Auch wir finden, dass es sich bei dieser Statue um keine Schönheit handelt, und schreiten die nahe gelegene Seebrücke entlang, welche von einem jungen Angler gerade zum Fischen genutzt wird. Just im Moment des Vorbeilaufens befördert der Junge einen Fisch an Land, dem er zu unserem Erstaunen einen Kuss gibt, bevor er ihn wieder ins kühle Nass wirft. Auf dem Kirchplatz verweilen wir eine Weile nahe des 1883 vom Bildhauer Max Wiese gestalteten Schinkel-Denkmals, welches den jungen Maler und Baumeister Karl Friedrich Schinkel zeigt, dessen Wiege in Neuruppin stand.
"Um den Verfall zu dokumentieren."
Ruppiner See
Kunst, die nicht begeistert
Schinkel-Denkmal
Auf dem Weg zurück nach Walsleben kaufen wir für das heutige Abendessen ein. Bevor wir uns an die Zubereitung der Speisen machen, entscheiden wir uns für einen Spaziergang durch Tobis neuen Wohnort, der etwa 800 Einwohner zählt; die im Mühlenweg lebenden, lustig dreinblickenden Alpakas, deren Wolle zu Bettwaren verarbeitet wird, nicht mitgerechnet. Zurück im Ferienhaus servieren uns Christian und René schließlich Nudeln mit zwei verschiedenen Tomatensoßen, die allen Beteiligten sehr gut schmecken. Farblich passend, tischt Christian als Nachspeise in Alkohol getränkte Wassermelone auf.
Abendspaziergang
Spaghetti Creazione a la Christian und René
Nach einem guten Frühstück treten wir am Sonntag gegen 10 Uhr die Heimfahrt an und freuen uns auf ein baldiges Wiedersehen. Möglicherweise wird dieses noch im selben Jahr in Walsleben stattfinden, sind wir doch auf die Fortschritte der Ausbauarbeiten sehr gespannt.

> 10./13. Mai <

Rätselhaftes Adventsmarkt-Wochenende

Am Vortag des ersten Advents treffen wir uns gegen 10:30 Uhr am reichlich gedeckten Frühstückstisch von Gastgeberin Ines in der Beuchaer Straße im Leipziger Stadtteil Anger-Crottendorf. Bevor wir uns auf die Brötchen stürzen, werden allerdings noch Adventsgeschenke verteilt, und so wandern hauptsächlich Adventskalender von einer Hand in die andere. Kaum sitzen wir am Tisch, fliegen auch schon – wie könnte es bei unserer Konstellation auch anders sein – die verbalen Fetzen. Letzteren gehen kleine Kaufetzen voraus, die sich ungefragt aus meinem Mund entfernen und auf dem Ärmel meiner Sitznachbarin Franny landen, welche mich – merklich angewidert – schreiend auffordert, nicht mehr in ihre Richtung zu gucken, während ich kauend erzähle. So gilt meine Aufmerksamkeit nun der mir direkt gegenübersitzenden Ines, die sich sofort auf alle Viere begibt, um den Fußboden von den kürzlich heruntergefallenen Brotkrumen zu säubern, was bei den anderen Frühstücksteilnehmern schallendes Gelächter auslöst. Dank unserer kuriosen Eigenarten geht also mal wieder ordentlich die Post ab.

Unsere gesättigten Leiber werfen wir nun auf die wenige Meter entfernte Couch, auf welcher wir uns Gedanken über die heutige Freizeitgestaltung machen. Zunächst steht der Besuch des Escape Rooms 'Honeckers Albtraum' auf dem Programm, dessen Tür sich in knapp einer Stunde für uns öffnen wird. Wie immer trödeln wir vor uns her, sodass wir nach dem Verlassen der Wohnung erschrocken feststellen, dass wir es aus Zeitgründen nicht mehr fußläufig bis zur Escape Room-Challenge schaffen werden. Während wir an einer Straßenbahn-Haltestelle auf einen Bus warten und wir Marcel dazu überreden können, nicht in den direkt neben uns stehenden Papierkorb zu pinkeln, begegnet uns eine Frau, die einen zusammengerollten grasgrünen Teppich auf der rechten Schulter trägt, der Ines' Wohnzimmerteppich zum Verwechseln ähnlich sieht. Ob die Wohnung unserer Gastgeberin gerade ausgeraubt wird, fragen wir uns, hängen dieser Frage aber nicht lange nach, da mit mehreren Minuten Verspätung jetzt endlich der Bus eintrifft. Wir haben Glück und der Busfahrer winkt uns ohne zu bezahlen weiter. Sind wir hier in Kuba oder was? Nein, sind wir nicht, denn nach zwei Stationen steigen wir aus und stehen vor der Russischen orthodoxischen^^ Gedächtniskirche und wenige Schritte später vor der deutschen Nationalbibliothek.

Fast pünktlich erreichen wir den Kohlrabi-Zirkus, eine Kuppel-Architektur, die laut Aussage unserer Stadtführerin Ines von den Leipzigern auch liebevoll 'Bürgermeisters Titten' genannt wird. Unser Anlaufpunkt soll heute die linke Titte sein, welcher wir uns entlang des großen Parkplatzes langsam nähern. Ein freundlicher Schirmmützenträger öffnet uns die Tür, führt uns durch einen mit unzähligen Signaturen an den Wänden versehenen Flur und heißt uns schließlich zur Escape Room-Challenge Willkommen. Nachdem er uns mit den Spielregeln vertraut macht und wir uns für die Variante mit sechs Tipps entscheiden, begleitet er uns in den benachbarten Rätselraum. Inmitten der mit DDR-Möbeln eingerichteten vier Wände fühlen wir uns um drei Jahrzehnte zurückversetzt. Am MuFuTi sitzend, macht uns unser Spielleiter auf die an der Zimmerdecke angebrachte Kamera aufmerksam, über die er uns während des Spiels beobachten wird. Mithilfe eines Walki-Talkies können wir bei Bedarf mit ihm kommunizieren. Vor dem fiktiven Hintergrund, dass Genosse Erich uns an der Flucht aus unserem eigenen Wohnzimmer hindern will, wird es nun unsere Aufgabe sein, binnen 60 Minuten den für die Flucht erforderlichen Schlüssel zu finden. Hierzu ist das Lösen mehrerer Rätsel notwendig und so erwarten wir mit Spannung das aus dem Radio ertönende Startsignal. Neugierig stellen wir alles auf den Kopf und rätseln, was das Zeug hält. Als Escape-Room-Anfänger stellen wir fest, dass es so leicht nicht ist, um die Ecke zu denken. Die Rätsel haben es wirklich in sich und so nehmen wir über das Walki-Talkie die uns zur Verfügung stehenden Tipps in Anspruch. Als der im Vorfeld angekündigte Countdown einsetzt, grübeln wir gerade über die letzte Zahlenkombination, welche wir schließlich erfolgreich enträtseln, sodass wir rechtzeitig den Schlüssel in den Händen halten und die Wohnzimmertür öffnen können. Die Aussage des Spielleiters, wonach wir angeblich 58 Minuten für die Flucht benötigt haben, wagen wir zu bezweifeln, kommt es uns doch so vor, als wolle man uns mit einem positiven Gefühl flüchten lassen. Die genaue Zeit soll uns allerdings egal sein, denn wir hatten einen aufregenden Aufenthalt und sind um eine interessante Erfahrung reicher. Der Besuch eines anderen Escape Rooms wird vermutlich nicht lange auf sich warten lassen. Ines kann sich sogar mit dem Gedanken anfreunden, sich im 'Carrie'-Raum einschließen zu lassen. Wir werden sehen.

Um zum Weihnachtsmarkt zu gelangen, entscheiden wir uns für die S-Bahn und so schreiten wir die Treppenstufen zur Haltestelle hinab. Für den Kauf von Fahrkarten bleibt keine Zeit, denn wir beweisen perfektes Timing und steigen in die eintreffende Bahn. Geiz ist auch Ende 2017 noch geil und so schmieden wir, clever wie wir sind, den Plan, uns am Fahrkartenautomat blöd zu stellen. Dem Schaffner gegenüber geben wir uns als ortsfremd und damit inkompetent in Sachen Fahrkartenautomaten-Benutzung aus und tippen munter und absichtlich orientierungslos auf dem Bildschirm herum. Ich vermute, dass der Mann in Uniform eine solche Szene nicht zum ersten Mal sieht und werde den Eindruck nicht los, dass er uns die Unwissenheit nicht abkauft. Allerdings scheint auch er nicht der Hellste im Umgang mit dem Automaten zu sein, kommt er doch angeblich nicht von hier. Letztendlich bleibt es bei der obligatorischen Verwarnung. Ob es an unserem überzeugenden Auftritt lag oder der freundliche Bahn-Stewart einfach nur keine Lust auf Konfrontation hatte, werden wir wohl nie erfahren. Als vermeintliche Idioten verlassen wir die Bahn.

Am Wilhelm-Leuschner-Platz angekommen, rückt Ines noch schnell ihr Höschen zurecht, bevor wir uns ins innerstädtische Weihnachtsgetümmel stürzen. Es sind weniger die wenigen Schritte, die wir zurückgelegt haben, als vielmehr die fruchtigen Düfte, die uns das Gefühl geben, dass es uns dürstet, und so gönnen wir uns eine Tasse Quitten-Punsch, Heidelbeer-Punsch und Heiße Schokolade. Bei den doch ziemlich kalten Temperaturen wärmen die Getränke gut durch und sind zudem sehr appetitlich. Weniger appetitlich, aber doch recht amüsant, ist das Thema, über welches wir uns unterhalten, nachdem wir auf Kais Abwesenheit zu sprechen kommen. Wer meint, dass das Thema Intimrasur bzw. damit möglicherweise einhergehende Hautschäden wenig unterhaltsam ist, der irrt, und so erzählen Marcel und Franny von Bekannten, die aufgrund eines eingewachsenen Haares ein halbes Jahr krankgeschrieben waren. Was es alles gibt, resümieren wir, und schwenken vom geistigen Konsum durchaus interessanter Erzählungen zum Konsum, der physisch erlebbar ist.

Auf der Suche nach einem grünen Parka klappern wir die umliegenden Bekleidungsgeschäfte ab und werden nach einer Stunde schließlich fündig. Shoppen macht hungrig und so gönnen wir uns im Gewusel der Massen Fisch im Bierteig oder die klassische Thüringer Bratwurst. Heruntergespült wird die Mahlzeit anschließend mit einem herrlich duftenden Erdbeer-Punsch. Am Stollen-Stand bietet eine freundliche Verkäuferin Stollen mit Marzipan, Mandeln oder Nougat feil. Zwar stößt die Frau durch ihren Vorschlag, beim ungeraden Stollenpreis aufzurunden, wodurch sie einige Cent mehr in ihre Kasse spült, bei Kundin Ines auf wenig Gegenliebe, doch hält es sie und Franny nicht vom Kauf des leckeren Gebäcks ab. Nachdem wir auch in der Lebkuchen-Bude für kräftigen Umsatz sorgen, statten wir dem Finnischen Dorf einen Besuch ab und lassen uns ein mit geräuchertem Lachs gefülltes Roggenbrötchen schmecken. Mit der Straßenbahn fahren wir zurück zu Ines' Wohnung, wo wir es uns auf der Couch gemütlich machen. Wenig überraschend tun wir uns mit einer Entscheidung für das abendliche Fernsehprogramm schwer. Unsere Wahl fällt schließlich auf einen Film, welchen wir anfangs dank einer mangelhaften Internetverbindung nur mit Unterbrechungen sehen können. Umso mehr freuen wir uns auf Carsten und Valeska, mit denen wir am Sonntagmorgen gemeinsam frühstücken wollen.

Unglaublich, Carsten und Valeska haben doch tatsächlich ohne uns angefangen! Naja, wir sind ja selbst Schuld, denn Pünktlichkeit ist nicht unsere Stärke. Obwohl, die meisten von uns waren Punkt 10 Uhr frühstücksbereit. Nur Marcel, der Wohnzimmerschläfer, kam nicht aus den Federn, sodass die Couch besetzt war. Schließlich konnten wir den Langschläfer doch zum Aufstehen bewegen und ließen uns Ines' selbstgemachtes Chili con carne schmecken, bevor wir uns voll und ganz den Verkaufstalenten Carsten und Valeska widmen. Da uns die feil gebotenen Produkte nicht überzeugen, switchen wir zum 'Sterntaler' und begleiten das kleine blonde Mädchen auf ihrer abenteuerlichen Suche nach ihren vom König verschleppten Eltern. Als ihre Reise zu Ende ist, gehen auch wir auf die Suche, und zwar nach frischer Luft. Bei fallenden Flocken spazieren wir durch den Lene-Voigt-Park, Ines' Laufrevier, bevor unser rätselhaftes Adventsmarkt-Wochenende schließlich sein Ende nimmt.

> 2./3. Dezember <