Caminho Português

1.5. Lisboa Alverca do Ribatejo

Gegen 9 Uhr gehe ich in den Frühstücksraum. Joaquín sehe ich nicht, er ist wahrscheinlich schon aufgebrochen. Ich erinnere mich, dass er sagte, dass er morgens meist sehr früh startet. Es fehlen Messer, sodass ich in den Küchenräumen nach dem Küchenpersonal Ausschau halte. Während des Essens wundere ich mich, dass ich kaum andere Herbergsgäste zu Gesicht bekomme, obwohl man mir mehrmals sagte, dass die Herberge so gut wie voll belegt sei. Eine der Küchenfrauen gießt Kaffee in die große Kanne nach, wobei ein nicht geringer Teil der Flüssigkeit an der Kanne hinunterläuft, was offensichtlich nicht bemerkt oder einfach ignoriert wird. Da es ansonsten nur wenige Personen zu beobachten gibt, schweift mein Blick auf die Theke. Sauberkeit sieht anders aus, denke ich mir, als ich Plastikmüll unter der Theke auf dem Boden liegen sehe. Gegen 12 Uhr verlasse ich die Jugendherberge. Etwa 620 km bis Santiago de Compostela liegen vor mir und ich hoffe, dass mir mein Karten-Reiseführer (Camino Portugués Maps von John Brierley) in den folgenden Wochen ein nützlicher Begleiter sein wird. Für die Strecke habe ich 26 Tage eingeplant. Am Río Tejo laufe ich entlang, unterquere die Ponte Vasco da Gama, während sich eine Gruppe Sportler an einem Wasserspender erfrischt. Ich entdecke den ersten gelben Pfeil, neben dem sich auch ein blauer Pfeil befindet, welcher den Weg nach Fátima markiert. Nach einer kurzen Rast zum Eincremen und Mittagessen treffe ich bei Sacarém auf Brenda aus Connecticut, USA. Da es hier unterhalb der Bahngleise in verschiedene Richtungen weitergeht und die Abbildungen in unseren Reiseführern keinen Aufschluss darüber geben, wo genau es lang geht, erkundigen wir uns nach dem richtigen Weg. Mit der gebürtigen Australierin, die Rentnerin ist, gehe ich nun weiter. Wir haben den Großstadtraum nun hinter uns gelassen und sind in einer herrlichen Landschaft unterwegs. Der Weg ist sehr schmal und führt entlang eines kleinen Flusses, vorbei an begrünten Hügeln. Da Brenda ihren Wasservorrat bereits aufgebraucht hat, reiche ich ihr meine Wasserflasche. In einem kleinen Laden legen wir eine Pause ein und Brenda spendiert mir – dankend für die vorherige Geste – Wasser, Mangosaft und eine Banane. Einheimische Jugendliche bitten mich darum, ein Foto von meiner finnischen Holztasse machen zu dürfen. Da Brenda durch die hohen Temperaturen zu erschöpft ist, um weiterzulaufen, lässt sie sich ein Taxi rufen und in die nächstgelegene Pension fahren. So setze ich den Weg allein fort und erreiche einen Holzsteg, der durch ein großes Feuchtgebiet führt, in welchem eine rapsähnliche Blüte das Landschaftsbild dominiert. Dieser kilometerlange Holzsteg wird ein paar Tage später Teil einer Marathonstrecke sein und ich begegne vielen Läufern. Die Sonne brennt. Ich kann es kaum erwarten Alverca do Ribatejo zu erreichen, da der Rucksack mittlerweile immer schwerer zu werden scheint. Junge Leute helfen mir bei der Suche nach der Straße, in der ich nach einem Zimmer fragen möchte. Schließlich klingele ich bei Señora Lourdes. Die kleine alte, freundliche Frau bittet mich in ihre Wohnung und bietet mir ein Bett in einem Zweibettzimmer an. Im Obergeschoss übernachtet ein Franzose, erzählt sie mir, weitere Gäste gäbe es heute nicht. Genial, ich darf also in ihrer Wohnung übernachten. Die Einrichtung ist etwas abgenutzt, aber vollkommen in Ordnung. Ich breite meine Sachen auf dem zweiten Bett aus, dusche und schaue mir den Wetterbericht im Fernsehen an. Morgen steigen die Temperaturen auf 27 Grad, auha! Ist das toll, denke ich mir. Ein Zimmer für mich allein und ein bequemes Bett. Die vielen Bettdecken und -laken erinnern mich an meinen Besuch bei der Familie von João. Als ich im Bett liege, klopft Lourdes an der Tür, weil sie ein Problem mit ihrer Fernbedienung hat. Ich gehe mit ihr ins Wohnzimmer und setze die Batterien erneut ein. Ich habe den Eindruck, dass es für Lourdes ganz normal ist, mit einem Fremden im eigenen Wohnzimmer zu stehen. Um mich am nächsten Morgen von der Sonne wecken zu lassen, lasse ich die Fenstervorhänge offen.
Holzsteg vor Azambuja
Erstes Quartier auf dem Camino
2.5. Alverca do Ribatejo Azambuja

Zwar hatte ich am Vorabend zu Lourdes gesagt, dass ich gegen 6 Uhr aufstehe und gegen 7 Uhr aufbreche, doch heute Morgen drehe ich mich um 6 Uhr nochmal um. Plötzlich klopft es direkt neben mir am Fenster. Lourdes und der Franzose stehen dort. Lourdes hatte offensichtlich nicht genau verstanden, welche Nationalität ich habe und dem Franzosen gesagt, dass auch ich Franzose sei, worauf er mich nun kennenlernen wollte. Mit verschlafenem Blick grüße ich beide durchs Fenster und gebe zu verstehen, dass ich kein Franzose bin. Ich packe meine Sachen zusammen und lasse mich von Lourdes durch ihre Wohnung führen. Durch die vielen Betten, die sie Pilgern zur Verfügung stellt, bessert sie ihre Rente auf. Im Hof steht ein Zitronenbaum. Lourdes schenkt mir eine Handvoll Früchte und als ich mich gegen 8 Uhr verabschiede, staunt sie – wie am Vorabend – über meine Körpergröße. Kaum aus dem Haus getreten, sehe ich einen Pilger am Straßenrand stehen. Er übernachtete in der Unterkunft auf der anderen Straßenseite. Wir beschließen im nahe gelegenen McDonalds zu frühstücken und stellen fest, dass wir nicht nur den Weg, sondern auch den Vornamen gemeinsam haben. Für Marco aus den Niederlanden ist es der dritte Camino. Bei strahlendem Sonnenschein brechen wir auf und treffen unterwegs auf einen französischen Pilger. Wir machen eine kurze Rast und gönnen uns ein Eis. Wir begegnen vielen Industrieanlagen, die heutige Etappe ist landschaftlich wenig attraktiv. Im Schatten mache ich erneut Rast, während Marco weitergeht. Ich treffe ihn in einem Restaurant wieder und bestelle das Menu del día. Mir wird Bacalhau serviert. Die Oliven reiche ich meinem Tischnachbarn. Da Marco bereits gegessen hat, bricht er auf. Laut Pilgerführer steht mir eine lange asphaltierte Straße bevor. Es gibt kaum Schatten. Hier macht es keinen Spaß zu wandern. An einer Tankstelle lege ich eine Rast ein. Als ich Azambuja erreiche, suche ich sofort die Apotheke auf und kaufe mir Blasenpflaster. Zwar sind die ziemlich teuer, aber ohne werde ich nicht in der Lage sein, am nächsten Tag weiterzugehen. Ich frage nach der lokalen Feuerwehr, den Bombeiros, da ich dort übernachten möchte. Nachdem ich drei Euro zahle, zeigt mir eine freundliche Feuerwehrfrau den Duschraum sowie den großen Schlafsaal. Fünf weitere Pilger sind bereits dort, haben Matten ausgebreitet und ihre gewaschene Kleidung hängt auf Leinen entlang der Wände. Ich genieße eine ausgiebige Dusche und wasche meine Kleidung. Ich treffe Marco, Joaquín sowie den Franzosen, der in der vergangenen Nacht in derselben Unterkunft wie ich übernachtet hatte. Sie wollen mit anderen Pilgern irgendwo zu Abend essen, aber ich lehne dankend ab, da ich ziemlich erschöpft bin und mit meinen Füßen kaum auftreten kann. Zwar lege ich mich frühzeitig auf die Matratze, doch gelingt es mir nicht einzuschlafen, bevor die Schnarcher den Saal erobern. Trotz Oropax bekomme ich in dieser Nacht so gut wie keinen Schlaf.
Zwei Marcos im Spiegel
Nachtlager bei den Bombeiros

3.5. Azambuja Santarém

Ich breche allein auf und schlage unabsichtlich einen falschen Weg ein. Schließlich auf dem richtigen Weg, geht es an Feldern entlang, auf denen hauptsächlich Tomaten und Wein angebaut werden. In einem kleinen Ort treffe ich auf eine Gruppe Irländerinnen, die kurz zuvor im Río Tejo gebadet hatten. Während meiner Brotzeit kommt Marco des Weges und erzählt mir ebenfalls von seinem Bad im Fluss. Ich bin an dieser Badestelle vorbeigegangen, ohne sie zu bemerken. Es folgt ein Feldweg, in dessen Schatten ich mehrmals rasten muss, denn die Sonne scheint auch heute wieder erbarmungslos. Ich brauche den letzten Schluck Wasser auf und es gibt keine Möglichkeit die Flaschen aufzufüllen. Plötzlich hält ein Auto. Eine freundliche Frau stellt sich als Teresa vor, fragt nach meinem Befinden und schenkt mir eine Flasche Wasser, wodurch sie zu meiner Retterin wird. Sie ist die Inhaberin des Santarém-Hostels und fragt mich, ob ich schon ein Bett in Santarém reserviert habe. Ich verneine, worauf sie mir das Harry Potter-Zimmer anbietet. Ich bin total happy und sage zu. Sogleich ruft sie ihren Ehemann an und gibt die Neuigkeit für das reservierte Einzelzimmer weiter. Was für ein Glück - ein Einzelzimmer. Teresa drückt mir eine Karte zur Orientierung in die Hand und fragt mich, ob sie mich mitnehmen soll. Zwar bin ich tatsächlich ziemlich erschöpft, sage aber, dass es mir gut geht, sodass sie allein weiterfährt. Sie wurde nämlich von den Irländerinnen angerufen und darum gebeten, einige von ihnen einzusammeln, da sie nicht weiterlaufen können. Eine von ihnen sei „in trouble“. Als ich später unter einem Baum Rast mache, kommen Joaquín und eine der Irländerinnen vorbei. Auch ihnen sieht man die Erschöpfung an. Joaquín hatte sich angeblich im Tagesverlauf verlaufen. Sie ziehen weiter und auch ich richte mich wenig später erneut auf. Santarém liegt auf einem Hügel, sodass es nun bergauf geht. Ich bin mittlerweile dermaßen erschöpft und durstig, dass ich bereue, nicht bei Teresa mitgefahren zu sein. Ich werde sehr wütend, als ein kleiner Junge davon läuft, als ich ihn frage, ob bzw. wo es in der Nähe einen Laden gibt. Später frage ich einen Handwerker nach einem Laden und trinke schließlich aus seinem Wasserhahn in seiner Autowerkstatt. Endlich erreiche ich das Zentrum. Noch nie habe ich mich so sehr über einen Laden gefreut. Im Regal greife ich zum schwarzen Zuckerwasser und begebe mich auf wackligen Beinen zur Kasse. Vor mir steht eine ältere Frau, die ihren Einkauf gemütlich auf das Band legt. Auch das noch. Mir fehlen die Kräfte und mir wird fast schwarz vor Augen. Am Geländer muss ich mich festhalten, da ich fast zusammensacke. Nachdem ich bezahlt habe, setze ich mich draußen auf den Gehweg und genieße die Energie des Zuckergetränks. Vor dem Eingang des Hostels treffe ich erneut Teresa. Sie stellt mich ihrem Mann vor und zeigt mir die Räumlichkeiten. Am Küchentisch sitzt Brenda. Es ist schön sie wiederzusehen. Das Harry Potter-Zimmer ist das kleinste Zimmer im Haus und das Bett reicht von einer Wand zur anderen. Ich bin super froh, dusche und ruhe mich eine Stunde im Bett aus. In einem Einkaufszentrum kaufe ich ein wenig Proviant ein und gönne mir ein Fast-Food-Meal. Auf der Straße staune ich über das in das Pflaster eingearbeitete flackernde Licht auf dem Zebrastreifen. Zurück im Hostel empfiehlt mir Teresa meine Blasen mit Aloe-Vera zu behandeln und reicht mir einen saftigen Pflanzenteil. Die Gruppe Irländerinnen sitzt ebenfalls auf der Terrasse. Teresa erzählt von Fátima. Der bedeutendste Wallfahrtsort Portugals sei ziemlich kommerziell geworden. In den dortigen Herbergen werden unverschämt hohe Preise verlangt. Ich entscheide mich gegen einen Abstecher dorthin. Auch in dieser Nacht bekomme ich wenig Schlaf.
Tomatenanbau für Ketchup-Produktion
Vor den Toren Santaréms
4.5. Santarém Golegã

Bereits um 4 Uhr höre ich Pilger, die im Raum nebenan frühstücken. Zum Glück halten sich die Ultra-Frühaufsteher nicht lange im Frühstücksraum auf, sodass ich nochmal kurz wegnicken kann. Nachdem ich meine sieben Sachen gepackt habe, setze ich mich zu Marie an den Frühstückstisch. Sie kommt aus Irland und berichtet mir begeisternd von diversen Sehenswürdigkeiten auf der grünen Insel. Gestärkt breche ich auf und entscheide mich trotz meiner geschundenen Füße gegen eine Zugfahrt nach Vale de Figueira, durch die ich etwa 11 km Fußweg sparen könnte und schließlich nur noch 20 km bis Golegã als nächstem Etappenziel zu bewältigen wären. Die Entscheidung werde ich bereuen. Noch in Santarém wechsele ich den Schuh und finde zwar aus der Stadt, verlaufe mich aber total. Als ich überzeugt bin, falsch gelaufen zu sein, frage ich einen Traktorfahrer, der mir den richtigen Weg weist. Offenbar bin ich bisher dem (ebenfalls gelb markierten) Weg nach Santiago gefolgt, der über Fátima führt. So ein Mist, ich bin hier total falsch. Zur Sicherheit frage ich nochmal nach, indem ich ein Auto anhalte. Ein freundlicher älterer Mann steigt aus und erklärt mir, wo ich bin. Anhand einer Skizze zeichnet er mir den Weg nach Valle de Figueira auf. Nun geht es die Straße entlang. In einem Dorf läuft ein Hund lautstark bellend auf mich zu. Er läuft neben mir etwa eine Minute von einem Vorgarten zum nächsten und ich ignoriere ihn. Mich ärgert, dass niemand im Dorf zu sehen ist. Der Hund scheint niemandem zu gehören. Plötzlich wird es ruhig. Als ich mich umdrehe, greift er an, beißt mich in den linken Unterschenkel und verschwindet. Im Schock begutachte ich die blutende Wunde. In Vale de Figueira angekommen, suche ich den Bahnhof auf. Der falsche Weg und der Hundebiss haben mir für heute gereicht. Von hier soll es mit dem Zug weitergehen. Ich wundere mich wenig, dass ich in dieser verlassenen Gegend keinen Fahrplan auf dem Bahnhofsgelände entdecken kann und frage schließlich einen Schrankenwärter. Zu meiner Überraschung muss er erst einmal im Plan nachsehen. Nach einer guten Stunde steige ich in den pünktlich erscheinenden Zug, der nach einer etwa fünfzehnminütigen Fahrt den 3 km außerhalb des Stadtzentrums von Golegã befindlichen Bahnhof erreicht. Ein Mann spricht mich an und weist auf einen Bus hin, welcher ins Zentrum der 'Pferdestadt' fährt (Golegã ist ein bedeutender Ort der Pferdezucht der portugiesischen Pferderasse Lusitano). Ich mag nicht auf den Bus warten und begebe mich zu Fuß auf den Weg. Auf einem Schild lese ich 'Piscinas públicas' und ziehe in Erwägung das öffentliche Schwimmbad später aufzusuchen. Auf dem Weg zu den Bombeiros, der lokalen Feuerwehr, sehe ich vor einer Kirche Marco sitzen und wir winken einander zu. Eine dunkelhäutige Feuerwehrfrau erklärt mir, dass im nahegelegenen See aufgrund einer derzeitigen Algenblüte nicht gebadet werden kann. Ich stelle fest, dass ich heute der erste Übernachtungsgast bin, dusche und gehe zur Casa de Misericórdia, um meine Wunde am Bein verarzten zu lassen. Die Casas de Misericórdia sind als jahrhundertealte katholische Einrichtung der Gesundheitsfürsorge über das ganze Land verstreut und auch in anderen Ländern aktiv. Gegenwärtig werden die Häuser häufig als Altenpflegeheime genutzt, was auch auf Golegã zutrifft. Nach einem kurzen Wortwechsel mit den hiesigen Senioren werde ich schließlich in ein Zimmer gebeten, in welchem eine junge Frau meine Wunde desinfiziert. Da sie keine Ärztin ist und auch keine Ärztin mehr im Hause ist, empfiehlt sie mir ins lokale Gesundheitszentrum, dem Centro de Saúde, zu gehen, um die Wunde genauer inspizieren zu lassen. Einige Straßen weiter kann die Empfangsdame mit meinem Auslands-Krankenversichertenschein nichts anfangen. Schließlich habe ich Glück und eine sehr freundliche Krankenschwester erscheint. Sie bittet mich in ein Zimmer, desinfiziert die nicht sehr tiefe Wunde erneut und legt einen Verband an. Freundlich bedanke ich mich für die spontane kostenlose Behandlung und nicke, als mir die Krankenschwester nahelegt am nächsten Tag nochmals vorbeizuschauen, falls ich Schmerzen haben sollte. Zurück im Nachtquartier wasche ich meine Wäsche im Waschbecken. Vor der Kirche setze ich mich zu Marco und Joaquín an den Tisch, denen ich bei einem Glas frisch gepressten Orangensaft von meiner Begegnung mit dem beißenden Vierbeiner berichte. Von Joaquín erfahre ich, dass auch er am Morgen fälschlicherweise den Weg nach Fátima einschlug, da er von mehreren Personen, die es nicht besser wussten, auf eben diesen Weg geschickt wurde. Marco erzählt mir von seiner neuesten Bekanntschaft, einer gebürtigen Kolumbianerin, die seit einigen Jahren in Kanada lebt. Hinsichtlich ihres Alters meint Joaquín, sie sei noch ein 'bebé' und ich nun nicht mehr der Jüngste. Tatsächlich ist sie zwei Jahre jünger als ich, was ich später beim Abendessen durch Diana selbst erfahre. Zu viert am Tisch gibt es heute Gemüsesuppe und Bacalhau. Da ich sehr müde bin, verlasse ich unmittelbar nach dem Essen das Restaurant und gehe zeitig schlafen. Das Einschlafen will mir nicht gelingen, weil draußen auf dem Feuerwehrhof ein Hund sehr laut bellt. Ich gehe hinunter und treffe auf eine Gruppe Feuerwehrmänner, die mir sagen, dass sich das Hundegebell in der Nacht legen wird. Tatsächlich ist es wenig später ruhig.
Perros abandonados
5.5. Golegã Tomar

Als ich aufwache, sehe ich aus dem geöffneten Fenster, wie es draußen in Strömen regnet. Es ist der erste Regen seit meiner Ankunft in Portugal. Wir haben hier lediglich zu dritt übernachtet. Neben mir packt Erika aus Deutschland ihre Sachen und auch Marco bereitet sich auf einen Regentag vor. Beide brechen nacheinander auf. Meine Wäsche ist zum Glück über Nacht getrocknet. Ich schlüpfe in meine Regenhose und -jacke und entdecke unter dem Nachbarbett Erikas Sandalen, die ich ihr einige Stunden später wiedergebe, als ich sie einhole. Im Eukalyptuswald ist der orangefarbene Boden aufgeweicht. Ich verlaufe mich und stoße schließlich auf eine Schnellstraße, der ich mehrere Kilometer folge. Als ich kurz raste, frage ich zwei Bauarbeiter nach dem Weg und ob sie mich mitnehmen könnten, denn ich bin ziemlich erschöpft. Leider sind die beiden noch nicht fertig mit ihrer Arbeit, sodass ich im Regen weiterlaufe. In einem kleinen Restaurant lege ich erneut Rast ein und stärke mich mit einem Sandwich. In dem Ort Glorieta erreiche ich endlich einen Bahnhof. Die fehlenden 7 km möchte ich mir ersparen. Vor Ort haben die Bauarbeiter keine Ahnung, wann der Zug fährt. Zum Glück kommt dieser nach zehn Minuten. Einen Schaffner scheint es im Zug nicht zu geben. Ich frage zwei Frauen nach dem direktesten Weg zu den Bombeiros in Tomar. Sie bieten mir eine Mitfahrgelegenheit an, was mich sehr freut. Der auch als Schlafsaal fungierende Versammlungsraum ist leer, als ich ankomme, und es wird auch bei dem einen Übernachtungsgast bleiben. Ich entdecke lediglich eine Matratze im Raum. Da sie ziemlich verdreckt ist, breite ich meine Isomatte aus. Nach einer heißen Dusche, während der ich den klebrigen Vorhang andauernd zur Seite schieben musste, kaufe ich kurz ein und begebe mich auf den Weg zum Convento de Cristo. Da die im 12. Jahrhundert von Tempelrittern gegründete Wehr-Klosteranlage geschlossen ist, genieße ich einen Blick auf die Stadt, deren Zentrum sehr gepflegt ist. Ich entdecke Tomar als bislang für mich schönste Stadt. In einem chinesischen Restaurant bestelle ich mir gebratene Nudeln und sehe im Fernsehen, dass morgen wieder Regen zu erwarten ist.
Blick auf Tomar
6.5. Tomar Alvaiázere

Durch Geräusche von draußen wache ich auf. Nebenan werden Marktstände aufgebaut. Tatsächlich bin ich der einzige Pilger, der hier übernachtet hat. Gerne hätte ich mich mit anderen ausgetauscht, aber bestimmt werde ich den ein oder anderen heute im Laufe des Tages treffen. Neugierig suche ich bei wolkenverhangenem Himmel die gelben Pfeile. Vor mir singt eine Frau auf dem Bürgersteig leise vor sich hin. Ich empfinde die Situation als sehr angenehm und beginne ebenfalls zu singen, worauf sich die Frau zu mir umdreht und lacht. Ich bitte sie weiterzusingen, was sie zu meiner Freude tut. Es klingt religiös. Einige hundert Meter nach unserer Verabschiedung spricht mich ein junger Mann an. Ich müsste schnell gehen, sagt er, denn AC/DC spielt am nächsten Tag in Porto. Er ist sehr offen, begleitet mich ein Stück und weist mir den Weg. Im Regen hält an einem Kreisverkehr eine junge Frau und fragt "Do you need a ride?". Stolz lehne ich dankend ab und freue mich über die freundliche Geste. In den Ortschaften passiere ich viele Häuser, die mit den quadratischen, bunt gemalten Keramikfliesen, den azulejos, geschmückt sind. Welch' Überraschung - im Eukalyptuswald verirre ich mich. Als ich eine Bundesstraße erreiche, folge ich ihr und raste in einem kleinen Restaurant, in welchem ich mir ein Käsesandwich bestelle. Nun geht es bergauf weiter. Je mehr ich mich meinem Etappenziel nähere, desto größer werden die Olivenplantagen beidseits des Weges. In Alvaiázere angekommen, folge ich der Beschilderung zu den Bombeiros. Hier darf ich sogar kostenlos übernachten. Ich gönne mir eine heiße Dusche und mache mich auf den Weg ins Zentrum, in der Hoffnung, dort den anderen Pilgern zu begegnen. In dem einzigen Restaurant im Ort treffe ich Diana und Marco und auch Joaquín stößt dazu. Wir werden freundlich bedient und berichten einander von den Ereignissen der vergangenen Tage. Während die anderen unweit vom Restaurant in der Albergaria übernachten, nächtige ich ein weiteres Mal allein bei der Feuerwehr.
Schlafsaal bei den Bombeiros
7.5. Alvaiázere Rabacal

Ich mache mich zeitig auf den Weg, denn eine Etappe von 32,5 km liegt vor mir.
Besonders reizvoll sind die sehr schmalen Feldwege, die entweder von dichter Strauchvegetation oder Lesesteinwällen gesäumt werden. In Ansião setze ich mich in einem Restaurant an einen Tisch und werde von der freundlichen Bedienung informiert, dass ich mich in etwa zehn Minuten an der Selbstbedienungstheke bedienen kann. Joaquín, Diana und Marco kehren ebenfalls ein, haben aber noch keinen großen Hunger und brechen nach einem kleinen Snack und einem Gespräch mit einem sympathischen Ehepaar aus Bremen wieder auf. Das Ehepaar verbringt gerade ein paar Wochen Urlaub in der Nähe und hat großes Interesse an dem, was ich die vergangenen Tage erlebt habe. Als ich die Blasen an meinen Füßen erwähne, greift die Frau in ihre Tasche und schenkt mir eine Packung Blasenpflaster. Zudem bietet sie mir an, mein schweres Paar Wanderschuhe, welches ich in den letzten Tagen nicht getragen hatte, nach Deutschland zu schicken. Da ich sie eventuell noch brauche, lehne ich dankend ab. Ich merke später, dass dies die richtige Entscheidung war, als die Socken in meinen Techamphibians nass sind und ein Schuhwechsel erfolgen muss. Die Feldwege stehen unter Wasser und ein Gehen trockenen Fußes am Wegesrand ist nicht immer möglich. An einer Tankstelle treffe ich Joaquín und wir gehen nun gemeinsam weiter. In einem Café begegnen wir Diana und Marco. Nacheinander brechen wir auf, sodass ich schließlich allein im Regen das heutige Etappenziel Rabacal erreiche. In der Unterkunft, der Casa de Turismo do Rabacal, erzählt mir ein Australier, dass ich auf Olga, die Dame des Hauses, warten müsse. Vor der Rezeption in halb-nasser Kleidung ungeduldig wartend, lerne ich einen portugiesischen und einen polnischen Pilger kennen. Schließlich treten Joaquín und später Diana und Marco ein. Statt den direkten Weg über die Bundesstraße zu nehmen, hatten Diana und Marco den im Pilgerführer markierten und längeren Weg eingeschlagen. Noch bevor Olga erscheint, düst Marco mit einem Taxi davon, da ihm der Tag ziemlich zugesetzt hat und er sich am nächsten Etappenziel erholen will. Olga stellt sich schließlich als Mann heraus und quartiert Joaquín wegen seines Schnarchens im hinteren Bereich der Rezeption ein, während Diana und ich in der ersten Etage Platz finden. Heute freue ich mich ganz besonders auf eine heiße Dusche, allerdings werde ich unter der Brause eine gefühlte Ewigkeit warten, bis sich dieser Traum erfüllt. Im gegenüber der Unterkunft gelegenen Restaurant tischen uns Nuno und seine Frau Omelettes und Suppen auf. Am Lagerfeuer sitzen wir gemütlich zusammen und lauschen den Geschichten eines einheimischen Mannes. Wir verabreden uns mit Nuno zum Frühstück um 8 Uhr.
Gemütlichkeit bei Nuno und seiner Frau
8.5. Rabacal  Coimbra

Ebenfalls am Frühstückstisch sitzen Paco und Isabel aus Madrid sowie ein älteres Geschwisterpaar aus Australien. Zwar ist erneut Regen angesagt, doch starten wir freudestrahlend gegen 9 Uhr bei trockenem Wetter. Mit gutem Tempo wandern wir heute auf dem linken Standstreifen der Landstraße, statt den gelben Pfeilen ins Hinterland zu folgen. In Gegenrichtung sind auf der anderen Straßenseite viele Pilger nach Fátima unterwegs. Vermutlich treibt uns der Gedanke an, dass es im Nu wieder nass werden könnte. Das Café, welches wir anvisiert hatten, hat leider geschlossen. Ein anderes gibt es leider weit und breit nicht. Als wir das Stadtgebiet von Coimbra erreichen, beginnt es in Strömen zu gießen. An einer Bushaltestelle suche ich Schutz und überlege einen Bus zu nehmen. Joaquín meint, dass wir eh durchnässt sind und wer weiß, wann der Bus schließlich kommt. Also weiter Richtung Innenstadt. Schnellen Fußes weichen wir den Wassermassen aus, die von den höher gelegenen Seitenstraßen auf die Fahrbahn strömen. Von einer Pfütze springen wir in die nächste. Wenn das Ziel nahe scheint, erträgt man so einiges. Es gießt wie aus Eimern. Unsicher, ob wir hier tatsächlich richtig sind, betreten wir das Gelände des Klosters Santa Clara-a-Nova. Zwei französische Pilger-Pärchen gesellen sich zu uns. Sie sehen nicht so aus, als seien sie die vergangene halbe Stunde im Regen gelaufen. Vermutlich haben sie sich hierher fahren lassen. Da sie kein Englisch sprechen, wird sich meine Frage wohl nicht so einfach beantworten lassen, aber mir ist momentan auch nicht nach Geplauder. Völlig durchnässt treten wir ins Innere des Klosters und erfahren, dass es sich hier um die Albergue de Peregrinos Rainha Santa Isabel handelt. Wir haben großes Glück und bekommen die Zusage für die letzten freien Betten. Die junge Dame, die uns empfängt, ist wenig freundlich. Sie ist die Ruhe in Person und kann uns nicht aufnehmen, ehe wir nicht ihren Fragebogen ausgefüllt haben. Eilig gebe ich Auskunft über Nationalität, Beruf, Motivation sowie Startpunkt der Pilgerreise und antworte auf die Frage nach meiner Telefonnummer, dass ich kein Telefon besitze, woraufhin mich Diana lächelnd ansieht. In den kalten Gemäuern warte ich ungeduldig, bis auch die anderen Pilger mit Fragen durchlöchert wurden, bevor es endlich die Treppen hinauf geht. Nachdem mir ein oberes Etagenbett zugeteilt wird, kämpfe ich mit der Duscharmatur, da mir weder Druck noch heißes Wasser zur Verfügung stehen. Gerade heute könnte ich mir stundenlang heißes Wasser auf die Schultern rieseln lassen. Ich realisiere, dass ich in einem Kirchenhaus bin und acht Euro für das Bett zahle, was will ich da großartig erwarten. Nach einer Katzenwäsche erblicke ich den Wäscheständer, der voll behangen ist und meine nassen Kleidungsstücke nicht mehr aufnehmen kann. Da es noch immer regnet, ist auch die Wäscheleine im Freien keine Option. Die Idee von Diana und Joaquín, einen Waschsalon in der über 100.000 Einwohner zählenden Universitätsstadt aufzusuchen, finde ich super. Wir erfahren, dass wir spätestens 22 Uhr zurück sein müssen, da das Kloster dann schließt und wir nicht mehr hinein gelangen. Mit unseren Kleidern im Gepäck laufen wir die gepflasterte Straße hinunter. Meine Füße schmerzen. Ein Taxi fährt uns ins Zentrum und wir schmeißen unsere gesamte Wäsche in die größte Trommel des Waschsalons. Die Wartezeit verbringen wir ein paar Straßen weiter in einem Restaurant, in welchem wir von einer sehr freundlichen Bedienung bewirtet werden. Da ich es kaum noch vor Schmerzen aushalte, gibt mir Joaquín eine Schmerztablette, die schnell die erwünschte Wirkung zeigt. Nachdem ich humpelnd einen kleinen Einkauf erledige, holen wir unsere Wäsche ab und bitten im Restaurant, uns ein Taxi zu rufen. Aufgrund eines großen Studentenfestes an diesem Wochenende scheint das Bestellen eines Taxis an unseren Standort unmöglich, sodass wir ein paar Straßen weiter gehen müssen. Später als geplant, dennoch pünktlich, erreichen wir 21:30 Uhr das Kloster, dessen Tür verschlossen ist. Klopfen, rufen, lauter rufen, nichts passiert. Mehrmals wählen Diana und Joaquín die an der Tür notierten Telefonnummern, doch auch das bleibt ergebnislos. Ich klettere über den Klosterzaun, um an einer anderen Tür zu klopfen. Auch hier kein Glück. Als ich mich erneut auf dem Zaun befinde, nähert sich eine asiatisch aussehende Frau. Sie schließt uns schließlich auf und belehrt mich über mein Fehlverhalten am Klosterzaun. Leise und froh, dass wir nicht draußen schlafen müssen, suchen wir die Schlafräume auf. Nachdem Diana meine Blase desinfiziert, werfen wir uns nach einem anstrengenden Tag in die Betten.
Pilger nach Fátima machen Rast
Nachtquartier in Coimbra
9.5. Coimbra  Mealhada

Während ich meine Schuhe auf Verwendbarkeit überprüfe, schaue ich Diana und Joaquín durch das Küchenfenster zu, wie sie Dianas Schuhe im Backofen trocknen. Offensichtlich hatte der Föhn nicht genug Power. Da Diana und Joaquín im nahegelegenen Restaurant frühstücken wollen, starte ich allein und schlendere durch das Zentrum der drittgrößten Stadt Portugals. Die kleine Iglesia de Santiago zählt zu den bedeutendsten städtischen Bauwerken aus romanischer Zeit. In ihrem Inneren verweile ich ein wenig und sehe den Einheimischen dabei zu, wie sie kniend ihr Gebet sprechen. Es dauert nicht lange und ich befinde mich außerhalb Coimbras. Immer mehr portugiesische Pilger, die auf dem Weg nach Fátima sind, kommen mir entgegen. Am Rande eines kleinen Ortes mache ich Rast und esse genüsslich die am Vorabend gekauften Schokoladenkekse der Marke 'Filipinos'. Eine weitere Pause lege ich in Trouxemil ein und besichtige den örtlichen Friedhof. An einer Mauer im Ort hängt auf einem A4-Blatt die Bekanntmachung über die kürzlich stattgefundene Beisetzung eines Verstorbenen mitsamt seines Fotos. Von Coimbra bis Mealhada sind es laut Reiseführer rund 22 km. Ich steuere die örtliche Feuerwehr an. Zwei Frauen an der Rezeption schicken mich weiter, da bereits alle Betten von Fátima-Pilgern belegt sind. Ich befürchte, dass es auch anderenorts schwierig sein wird, ein freies Bett zu bekommen. Wie auch an den Tagen zuvor, erreiche ich im Regen mein Nachtquartier. Als ich die Albergue de Peregrinos da Mealhada betrete, treffe ich auf Marco. Wir freuen uns sehr über das Wiedersehen und ich noch viel mehr, als man mir trotz angeblich voller Auslastung ein Bett anbieten kann. Die Freude wird noch größer, als Diana plötzlich dazustößt. Man geleitet Diana und mich in ein noch freies Zimmer mit einem Etagenbett und vier Einzelbetten. Vermutlich wurden die vorher angekommenen Pilger in den anderen Zimmern untergebracht, bis diese voll belegt waren und der Herbergsbetreiber wollte eine weitere Zimmerreinigung umgehen. Marco entscheidet sich für einen Zimmerwechsel und gesellt sich zu uns. Das Zimmer ist hell und sauber. Ein wenig Sorgen machen wir uns um Joaquín und sind froh, als er plötzlich zur Türe hereinkommt. Beim gemeinsamen Abendbrot tauschen wir uns über den Tag aus. Zwei portugiesische Pilger machen die Zimmerbelegung komplett. Sie sind auf dem Weg nach Fátima. Als wir in unseren Betten liegen, kommen wir ins Gespräch. Einer von ihnen gibt mir seine Telefonnummer und lädt mich zu sich nach Porto ein. Er hat ein kleines Haus, sagt er, aber Platz zum Schlafen findet sich auf jeden Fall. Da er aber erst in vier Tagen aus Fátima zurück sein wird und ich voraussichtlich in drei Tagen Porto erreiche, wird ein Treffen unwahrscheinlich.
10.5. Mealhada  Albergaria-a-Velha

Da es regnet, beschließen Joaquín, Diana und ich auf der Straße zu gehen, statt den gelben Pfeilen zu folgen. Als sie in einem Restaurant einkehren, um zu frühstücken, gehe ich weiter und treffe auf einen Italiener sowie erneut auf die zwei französischen Paare. Ich bin hungrig und bestelle mir in einem kleinen Wirtshaus bei einem freundlichen Muttchen einen Teller Suppe. Nun treten auch Diana und Minuten später die Franzosen ein. Joaquín scheint hingegen nicht hungrig und läuft weiter. Ich rufe João an, da ich plane, bereits heute in Albergaria-a-Velha anzukommen und nicht in Águeda zu bleiben. Freundlicherweise leiht mir die Bedienung ihr Handy und möchte auf Nachfrage kein Geld für das Telefonat. Mit einem ordentlichen Trinkgeld zeige ich mich erkenntlich. João stimmt einem Treffen spontan zu und ich verabrede mich mit ihm für den heutigen Abend. Allein gehe ich weiter, bis ich schließlich auf Isabel und Paco aus Madrid begegne. Isabel ist sehr gesprächig und erzählt, dass sie ohne Rucksack unterwegs sind, weil sie seit dem vorherigen Camino Knie-Probleme hat. So lassen sie ihr Gepäck nun von einer Station zur nächsten fahren. Isabel empfiehlt den Camino francés im März oder September zu laufen, wenn der Wind über die Weizenfelder weht. Die Unterhaltung ist sehr angenehm. In einer kleinen Ortschaft hält plötzlich ein Wagen am Straßenrand und ein Mann winkt mich zu sich ans geöffnete Beifahrerfenster. Freundlich reicht er mir eine Tüte mit zwei Äpfeln, einer Wasserflasche sowie einer Visitenkarte eines lokal ansässigen Arztes, der er vermutlich selbst ist. Ich freue mich sehr darüber und sehe, wie er ein paar Meter hinter mir erneut hält, um auch dem französischen Pärchen eine Freude zu bereiten. Erstaunt bleibe ich vor einem Haus stehen, das vollständig mit blauen azulejos versehen ist. Der Eigentümer ist sehr konsequent, denn beim Zaunsockel sieht es nicht anders aus. Die Albergue in Albergaria-a-Velha ist schnell gefunden und der Empfang ist freundlich. Während mein Pilgerpass einen weiteren Stempel erhält, tritt Diana durch die Tür und gemeinsam belegen wir ein Zimmer in der oberen Etage. Nach einer ausgiebigen Dusche wasche ich im Keller meine Wäsche. João wartet bereits an der Rezeption und wir freuen uns über das Wiedersehen nach über zwölf Jahren. João schlägt vor nach Aveiro zu fahren und auch Diana fährt mit. Nachdem wir ein paar Schritte auf dem Fußweg in Richtung Auto gegangen sind, treffen wir zufällig auf Marco und machen uns schließlich zu viert auf den Weg nach Aveiro. Die Stadt hatte mir schon 2003 gefallen, als ich João und dessen Familie im nahe gelegenen Oliveira de Azemeis besuchte. Aufgrund seiner vielen Kanäle, auf denen die farbenprächtigen Moliceiro-Boote verkehren, wird Aveiro als Venedig Portugals bezeichnet. In einem schicken Restaurante bestellen wir Lachs und werden von einem unterhaltsamen und weltgewandten Kellner bewirtet. Besonders lustig wird es, als ich um ein Radler bitte und nach der portugiesischen Bezeichnung für ein Getränk aus Bier und Limonade frage. Statt 'Panaché' sagt er 'Pinochet' und kann sich auch Minuten nach dem Gespräch nicht erklären, wie er auf den Namen des chilenischen Diktators kommt. Etwas besorgt sind wir über Joaquín, den auch Marco in seiner Herberge nicht angetroffen hatte. Für mich wird es an dem heutigen Tage das letzte Mal gewesen sein, dass ich Joaquín sehe, während die anderen ihm hin und wieder nochmal begegnen werden. Auf der Rückfahrt erzählt João von einem eingeschleppten Insekt, das vor allem die jungen Palmenblätter frisst und für ein großflächiges Absterben der lokalen Palmenvegetation verantwortlich ist.
Bereitgestellte Versorgung für die Pilger?
11.5. Albergaria-a-Velha São João de Madeira

Ich starte allein. Die ersten Kilometer führen durch einen Eukalyptuswald, dessen Wege teilweise so stark unter Wasser stehen, dass ich nur quer Feld ein gehen kann. Nicht lange allein bleibe ich in einer kleinen Kirche in Albergaria-a-Nova, als Diana und Marco durch die Tür treten. Gemeinsam setzen wir den Weg fort und gönnen uns nach einem kräftezehrenden Aufstieg in das Zentrum von Oliveira de Azeméis ein Omelette. Die verbleibenden neun Kilometer bin ich wieder allein unterwegs und komme schneller als erwartet in São João de Madeira an. Bei den Bombeiros erfahre ich, dass hier umgebaut wird und eine Frau schlägt mir vor, zu warten, bis mich jemand in eine Unterkunft etwas außerhalb der Stadt fahren kann. Da ich weiß, dass es auch in São João de Madeira eine Casa de Misericordia gibt, lehne ich dankend ab und begebe mich erneut auf die Quartierssuche. Ich freue mich, als ich Diana und Marco treffe und gemeinsam fragen wir uns zum örtlichen Altenpflegeheim durch. Im Keller wird uns von der Mitarbeiterin Cecilia ein kleines Zimmer gezeigt, indem bereits sechs Pilger untergebracht sind. Wenn auch wir hier übernachten sollten, würde es ziemlich eng werden. Zu unserer großen Freude dürfen wir uns jedoch im benachbarten großen Freizeitraum einrichten. Auf dem Weg zum Duschraum (in welchem ich im Minutentakt aus der Kabine treten muss, um den Lichtschalter zu bedienen, weil es ständig stockfinster wird) bemerke ich die hauseigene Wäscherei und frage hier später gemeinsam mit Diana, ob wir unsere Wäsche hier waschen können, denn auch der heutige Tag war ziemlich verregnet. Wir haben großes Glück und stehen zwei sehr freundlichen Frauen gegenüber, die unsere Frage bejahen, sodass wir unsere Kleider eilig herbei schaffen. Inmitten von Wäschebergen überlegen die Frauen kurz und teilen uns mit, um wieviel Uhr wir unsere Wäsche wieder abholen können. In der Zwischenzeit besorge ich mir etwas für das Abendessen sowie eine Kleinigkeit für das Wäscherei-Personal. Als wir die Wäsche abholen, ist diese bereits getrocknet und zusammengefaltet. Mit einer großen Packung Mercí bedanken sich Diana, Marco und ich für die spontane Unterstützung und umarmen die Frauen. Über das Thema Blasenpflege komme ich mit dem Polen Woytek ins Gespräch. Besonders beeindruckend fand er seinen Camino nach Rom vor zwei Jahren. Entlang des Weges durch spektakuläre Landschaften traf er nur wenige Pilger, unter ihnen zwei Kanadier, mit denen er sich sehr gut verstand. Genau die beiden traf er vor einigen Tagen auf dem portugiesischen Weg wieder, ohne sich in den vergangenen zwei Jahren gesprochen zu haben - ein riesengroßer Zufall.
12.5. São João de Madeira Porto

Im Nieselregen mache ich mich auf den Weg. Als es zu regnen aufhört und ich mich einer Kleidungsschicht entledige, geht eine Pilgerin an mir vorbei, die ich später zwar wieder einhole, aber mit der ich nicht ins Gespräch komme. Vermutlich handelt es sich um die Tschechin, mit der Joaquín über einen längeren Zeitraum gemeinsam gehen wird, was ich später durch Diana erfahren werde. Da ich zwischen Lissabon und Porto nur selten einem anderen Pilger begegne, merke ich mir deren Gesichter gut und tausche mich am Abend entsprechend aus. Das Gelände vor den Toren Portos ist ziemlich anstrengend, da viele Höhenmeter genommen werden müssen und der Untergrund oftmals uneben, steinig und nass ist. Auch das noch. Aufgrund einer Umleitung muss ein Umweg ins Zentrum genommen werden. Während meine Pilgerbekanntschaften auf der sicheren Seite sein wollten und bereits vor Reiseantritt oder am gestrigen Tag ein Zimmer reserviert hatten, steuere ich ohne bestimmtes Ziel auf das Zentrum zu. Eine Absage nach der anderen verdeutlicht mir, dass ich sehr naiv war zu glauben, dass sich in der zweitgrößen Stadt Portugals schnell ein bezahlbares freies Bett finden lässt. Müde schleppe ich mich von einem möglichen Quartier zum nächsten, bis ich nach stundenlanger Suche eher zufällig vor einem Hostel nahe der Rua de Firmeza stehe. Ich kann mein Glück kaum fassen, als mir eine deutsche Wooferin an der Rezeption zusätzlich zum Domicilio (Mehrbettzimmer) für 11 Euro pro Nacht ein Einzelzimmer für 15 Euro anbietet. Das Zimmer befindet sich im Keller und es ist aufgrund der direkt darüberliegenden Treppe hin und wieder laut, doch nach der anstrengenden Unterkunftssuche inmitten der Großstadt genieße ich es allein zu sein.
13.5. Porto

Nach einem einfachen, aus Toast mit Marmelade und Tee bestehenden Frühstück, checke ich seit Beginn meines Caminos vor zwölf Tagen im Aufenthaltsraum das erste Mal meine Emails. Ich reserviere das Zimmer für eine zweite Nacht und gehe ins Zentrum. Endlich mal ohne Rucksack unterwegs zu sein, tut richtig gut. Auf dem Weg zur Kathedrale Sé, in der ich meinen Pilgerpass um einen Stempeleintrag (carimbo) erweitern möchte, mache ich im Bahnhof São Bento Halt und bestaune die großen Kachelgemälde. Nachdem ich beim Chinesen gebratene Nudeln gegessen habe, überlege ich auf einer Brücke stehend, wie ich am besten zur Promenade des Flusses Douro gelange, als man plötzlich meinen Namen ruft. Das etwa 230.000 Einwohner zählende Porto ist ein Dorf, denke ich, als ich Diana erblicke, wie sie freudestrahlend auf mich zugeht. In einer Touristen-Information erkundigen wir uns nach den verschiedenen Wegen bzw. Beschilderungen nach Santiago. Wir schlendern an der von Touristen verstopften Promenade entlang und treffen in einem Souvenirladen auf Marco und seine Frau, mit der er sich in Porto verabredet hatte. Porto, eindeutig ein Dorf. Mit niemandem habe ich Handynummern ausgetauscht. Die sich wiederholenden Begegnungen sind zufällig oder werden von einer Art besonderem Camino-Spirit geschaffen. Jeder von uns beabsichtigt, morgen seinen Weg fortzusetzen und statt der traditionellen Route die Küstenroute zu nehmen und im Glauben an ein baldiges Wiedersehen stürzen wir uns wieder getrennt voneinander ins Getümmel Portos. In einem Park genieße ich ein wenig Ruhe. Die Stadt gefällt mir besser als Lissabon, denn hier fällt die Orientierung leichter und das Klima ist angenehmer. Auf dem Weg zum Hostel suche ich einen Friseur auf.

14.5. Porto → Vila do Conde

Heute geht es weiter. Der rund 250 km lange 'kleine' Camino Portugués von Porto nach Santiago de Compostela ist angeblich um ein Vielfaches stärker frequentiert, was auch nicht schwer ist, da sich meiner Meinung nach die in Lissabon startenden Pilger an zwei Händen abzählen lassen. Aus mehreren Gründen habe ich mich spontan für die Küstenvariante entschieden. Zum Einen bin ich die vergangenen vierzehn Tage im Landesinneren unterwegs gewesen und die Küste bietet Abwechslung. Zum Anderen sind auf dem Küstenweg vermutlich weniger Pilger unterwegs, was mir besser gefallen würde. Da es am frühen Morgen nieselt, starte ich erst gegen 10 Uhr. Mit der am Tag zuvor gekauften Metro-Fahrkarte fahre ich nach Matosinhos, überquere eine Brücke und entdecke kurz vor Erreichen der Strandpromenade die gelben Pfeile. Am Ufer des Atlantiks entdecke ich eine Gruppe von Surfern. Nun geht es am Meer entlang, die Brandung ist stark. Wie vermutet, begegne ich mehreren Pilgern. Ich bin etwas schneller als sonst unterwegs, da ungewiss ist, ob noch Betten in den nächsten Alberguen frei sind. Die vielen Touristen in Porto und die nun größere Zahl an Pilgern geben mir zu denken. Ich entscheide mich gegen die erste Albergue, da sie sich etwa 900 Meter abseits des Weges befindet und ich im Fall, dass kein Bett mehr frei ist, den knappen Kilometer wieder zurückgehen müsste. Außerdem traue ich mir noch weitere Kilometer zu. In einem Restaurant esse ich Fleisch mit Reis und Pommes. Die halbe Portion ist groß, sodass ich mich gut gesättigt wieder auf den Weg mache. Es geht nach wie vor größtenteils auf Holzstegen entlang. Durch ein Vogelschutzgebiet wandernd, komme ich mit einem Paar aus Österreich ins Gespräch. Christian erzählt mir, dass er am Morgen über eine kürzlich in Vila do Conde geöffnete Albergue gelesen hat, er allerdings im Vorfeld in einem Hotel ein Zimmer reserviert hatte. Ein wenig später entdecken wir das entsprechende Hinweisschild und unsere Wege trennen sich wieder. Kaum habe ich das Zentrum erreicht, werden die Finger meiner rechten Hand sowie mein rechtes Hosenbein zur Zielscheibe eines fetten Vogelschisses. Was für eine tolle Begrüßung. Ein polnisches Paar ist ebenfalls auf der Suche nach der Albergue. Gemeinsam machen wir deren Standort ausfindig und treten mit einer Handvoll weiterer Pilger ein. Fátima empfängt uns sehr freundlich. Es ist eine der herzlichsten Begegnungen bisher. Eine Pilgerin aus den USA hatte ein paar Tage zuvor Geburtstag und so singen wir ihr an der Rezeption ein kurzes Ständchen. Die Chefin des Hauses, ebenfalls mit dem Namen Fátima, stößt hinzu und fordert alle auf, dem Geburtstagskind einen Kuss zu geben. So geschieht es. So macht die Ankunft Spaß. Als ich erfahre, dass neben mir eine Finnin steht, begrüße ich sie mit einem 'Tervetuloa', worauf Heli etwas geschockt reagiert. Mit einem auf finnisch grüßenden Pilger hatte sie auf ihrem Camino sicher nicht gerechnet. Während die Paare in die obere Etage geschickt werden, stecken mich die beiden Fátimas in den mit ausnahmslos älteren Frauen belegten Schlafsaal. Nachdem ich ein oberes Bett beziehe, werfen die anderen Pilger und ich unsere Kleider in die Waschmaschine. Jeder steuert ein paar Groschen zu. Fátima wird die Wäsche später in den Trockner legen, ein toller Service. Von jedem sammelt sie einen Euro ein, um Sekt und Gebäck zu kaufen, damit zu späterer Stunde auf den Geburtstag der US-Amerikanerin angestoßen werden kann. Nach einer ausgiebigen Dusche treffe ich auf der Straße Woytek und später im Supermarkt Diana. Beide übernachten in einer anderen Herberge. Zurück an der Rezeption höre ich, wie Fátima über einen Pilger spricht, der kürzlich hier übernachtet hat und laut schnarcht. Sofort denke ich an Joaquín, nenne laut seinen Namen, worauf mir Fátima auf dem Computerbildschirm ein Bild zeigt, auf dem Joaquín zu sehen ist. Ich bin froh, zu wissen, dass es ihm gut geht. Er ist angeblich mit einer jungen Tschechin unterwegs. Am Abend singen wir in gemütlicher Runde in mehreren Sprachen Geburtstagsständchen.
 
 
 
 
 
 
 
 
 15.5. Vila do Conde → Esposende

Auf dem Weg zum Ozean gehe ich durch ein durchaus sehenswertes Zentrum mit imposantem Kirchenbau. Viele Läufer und Radfahrer sind am heutigen Sonntag auf der Promenade unterwegs. Am Wasser suche ich mir eine geschützte Stelle und frühstücke ein paar Orangen. Im Küstenstädtchen Póvoa da Varzim sind viele Menschen unterwegs. Am Strand wird Volleyball gespielt. Mit ihrem Fahrrad holt mich Nancy ein, die zeitweise in Alaska lebt. Als ich mich unbewusst für den Weg durch die Dünen entscheide, folgt sie einem anderen und womöglich dem richtigen Weg. Offensichtlich befinde ich mich auf einmal an einem Nudistenbeach. Eindeutige Posen verdeutlichen mir, dass es hier um wesentlich mehr geht. Verwirrt wegen meines Irrweges stapfe ich durch den Sand auf der Suche nach einer möglichen Querung der hohen Dünen. An einer Stelle entschließe ich mich, die Düne hinaufzustapfen, doch die andere Seite entpuppt sich schließlich als Golfplatz. Also geht es weiter am Strand entlang. Als ich an einen kleinen Fluss gelange, welcher in das Meer fließt, treffe ich auf die Spaziergänger Pedro und seine aus La Coruna stammende Frau. Sie meinen, zur Querung des Flusses gäbe es keine Alternative, sodass mir keine Wahl bleibt und ich barfuß durch das Wasser gehe. Ihr Angebot, mich nach Esposende mitzunehmen, nehme ich dankend an, denn durch den Sand zu stapfen, ist ziemlich anstrengend und zu weiteren Kilometern zu Fuß wäre ich heute kaum in der Lage. Als wir auf der Promenade spazieren, spricht die Spanierin in hervorragendem Englisch über die hiesige meist fehlende Küstenbebauung. Sie meint, dass die Portugiesen die Uferfreiräume viel mehr respektieren als die Spanier. Während der Autofahrt erhalte ich interessante Informationen über die zu passierenden Ortschaften. An der Albergue in Esposende setzen sie mich ab und warten, ob mir jemand die Tür öffnet. Zu meiner Überraschung öffnet mir Christian aus Österreich und teilt mir mit, dass ich mich am Gebäude des Roten Kreuzes anmelden müsse. Pedro fährt mich freundlicherweise auch dortin. Wieder eine Begegnung mit Einheimischen, über die ich mich sehr gefreut habe. Bei zwei sehr sympathischen Mädels des Cruz Roja checke ich ein. Zurück in der Albergue entscheide ich mich für ein oberes Bett am Fenster, gehe zum Strand und nehme - etwas windgeschützt in der Düne liegend - ein Sonnenbad. Mit seinem felsigen Untergrund lädt der Strandabschnitt hier nicht zum Baden im Meer ein. Zurück im Dormitorio treffe ich auf Diana und mache Bekanntschaft mit Carminda aus Portugal, Sabine aus Berlin/Neuköln und zwei Polen, wobei es sich um Vater und Sohn handelt. Später bezieht neben mir ein litauisches Paar ihre Betten und mit Erstaunen stelle ich fest, dass der Mann blind ist.
 
 
 
 
 
 
16.5. Esposende → Viana do Costelo

Als Letzter verlasse ich die Albergue kurz vor 9 Uhr, während eine Frau darauf wartet, mit der Zimmerreinigung beginnen zu können. Einige hundert Meter weiter hole ich einige der anderen Pilger ein und kaufe mir Kekse in einem kleinen Laden. Gemeinsam mit Diana betrete ich eine Kirche und füllen unsere Pilgerpässe mit einem weiteren Stempel. Wir treffen auf das Paar aus Litauen, das trotz der Sehbehinderung des Mannes flott auf dem unwegsamen Gelände unterwegs ist. Beide scheinen ein eingespieltes Team zu sein. Unser Etappenziel, Viana do Costelo, erreichen wir bereits am frühen Nachmittag. Zwar lässt man uns noch nicht eintreten, doch dürfen wir unsere Rucksäcke verstauen, bis das Kloster um 15 Uhr seine Tür für Pilger öffnet. In der Zwischenzeit esse ich im Zentrum Mittag. Pünktlich zurück am Kloster, werden wir von einem alten Mann hineingebeten. Nach der Dusche treffe ich im Dormitorio auf Sabine und Heli. Zu Helis Erstaunen befindet sich heute unter den Pilgern noch jemand, der ein wenig Finnisch spricht, denn auch der Schweizer Viktor hatte eine Zeit lang im hohen Norden verbracht. Die Minuten andauernde Diskussion zwischen Heli und Diana über die Schlafposition von Diana bzw. die Stelle, an die Diana ihren Kopf legt, ohne dass Heli beim Erklimmen der Leiter darauf tritt, wird zum großen Lacher. Nachdem wir gemeinsam zu Abend gegessen haben, treffen wir direkt vor dem Kloster auf Marco, Carminda und Michaela, die in einer nahe gelegenen Jugendherberge ihr Quartier bezogen haben. Unglaublich, dieser Zufall. Im Schlafsaal kriege ich aufgrund von Moskitos kein Auge zu, greife mir die Matratze und lege mich im Nachbarzimmer auf den Boden, doch auch hier bringen mich die Blutsauger um den Schlaf. Ich erinnere mich, dass ich am Abend zuvor Heli das Wort 'Moskito' sagen hörte, was aufgrund ihrer Aussprache besonders lustig klang, aber leider nicht weiter beachtet wurde.
 
 

 
17.5. Viana do Costelo → Caminha

Um 7:15 Uhr geht es los. Sabine schließt sich mir an und gemeinsam suchen wir die gelben Pfeile. Nichts. Nur gelbe Fußabdrücke, deren Bedeutung wir nicht kennen. Ich gehe voran, da Sabine ein langsameres Tempo hat. Zwar ist das Ok für sie, dennoch begleitet mich vor allem aufgrund der fehlenden Orientierung ein schlechtes Gefühl, als ich mich umdrehe und sie schließlich nicht mehr zu sehen ist. Als ich das Meer erreiche, entdecke ich die gelben Pfeile. Vor mir erkenne ich Heli an ihrem Rucksack. Wir gehen nun gemeinsam. Ihre Gesellschaft gefällt mir sehr, denn sie redet ruhig und bedacht. Als wir eine Pause machen, geht Viktor vorbei. Er scheint es zu bevorzugen, immer allein zu gehen. Nun geht es teilweise direkt am Strand entlang und wir überqueren barfuß einen ins Meer mündenden Fluss. Der Holzsteg ist an vielen Stellen versandet, was ein Passieren sehr erschwert. Die Küstenlandschaft ist sehr schön. Heli ist etwas langsamer als ich, sodass ich allein weitergehe. Ich wandere einen scheinbar endlosen Holzsteg entlang, stapfe einige Meter durch den Sand und überquere eine Brücke, bis ich in einer Touristen-Information Pause mache. Vor mir liegen weitere acht Kilometer und die Sonne brennt. Die streckenweise schnurgeraden Straßen scheinen kein Ende zu nehmen. Ziemlich ausgelaugt erreiche ich den sehr belebten Marktplatz von Caminha und treffe gemeinsam mit dem arroganten Manfred und seiner Frau in der Albergue ein. Ich entscheide mich auch hier wieder für ein oberes Bett, esse auf dem Marktplatz einen Hamburguesa mit Pommes und gehe zum ziemlich entfernten Strand. Das Wasser ist sehr kalt, sodass es bei einem kurzen Bad bleibt und auch auf dem Handtuch verweile ich nicht lange, da es sehr windig ist. Auf dem mittlerweile leeren Marktplatz esse ich gemeinsam mit den anderen Pilgern zu Abend und zurück in der Albergue scherze ich mit Carminda über den stets schnarchenden Litauer Castides, den ich in der Nacht mit meinem Wanderstab anstoßen könnte, sofern es zu laut werden sollte.
 
 
18.5. Caminha → Mougás

Es hieß gestern, dass die Fähre um 9 Uhr ablegt. Vor Ort sagt man uns heute jedoch, dass die Überfahrt erst um 10:30 Uhr erfolgt. Nun gut, dann kann ich nochmal ins Zentrum, um ein wenig Proviant einzukaufen. Marco spendiert einen Ananaskuchen, den er zuvor von einer Gruppe Schulkindern auf dem Marktplatz gekauft hat. Die Fährfahrt dauert lediglich 10 Minuten und nun stellen wir unsere Uhren um eine Stunde vor, da wir uns auf spanischem Boden befinden. Mit einem Bauern unterhalte ich mich, während er seine Kartoffeln spritzt. Ich genieße das Gespräch, da ich endlich mal wieder Spanisch höre und meine Sprachkenntnisse anwenden kann. Den Ort Oia durchquere ich und erreiche in Mougás die 2010 eröffnete Albergue Turístico Aguncheiro. In einer kleinen Felsenmulde nehme ich ein erfrischendes Bad. Im Restaurant bestelle ich eine Tortilla Francesa. Mit Heli gehe ich entlang von riesigen Aloe Vera-Pflanzen spazieren und wir genießen den Sonnenuntergang.
 
 
19.5. Mougás → Ramallosa

Nachdem ich den Ort Mougás verlassen habe, sehe ich im Nebel an der felsigen Küste einige Fischer, die vermutlich die berühmten percebes (Entenmuscheln) sammeln. Um diese Delikatesse zu ernten, begeben sich die Fischer in Lebensgefahr, denn die See ist zumeist sehr rau. Als ich Heli einhole, gehen wir gemeinsam weiter und nehmen in Baiona einen Happen zu uns. Nach einigem Unherirren erreichen wir schließlich das Gelände des im 17. Jahrhundert erbauten Pazo de Pías. Die quirlige Frau an der Rezeption meint, dass es die beste Albergue überhaupt sei. Besonders froh bin ich über Badewanne, in die ich sogleich steige. Auch Carminda, Michaela und Viktor nächtigen heute hier. Gemeinsam verbringen wir den Abend auf dem Rasen im Vorgarten.
20.5. Ramallosa → Redondela

Nach einem Melonenfrühstück starte ich um 9 Uhr. Da außerhalb des Ortes an zwei Stellen gelbe Pfeile durchgestrichen sind oder in unterschiedliche Richtungen weisen, bin ich verwirrt, schlage dennoch den richtigen Weg ein. Der linke Tragegurt meines Rucksack drückt unangenehm auf meine Schulter und trotz mehrmaliger Begutachtung des Gurtes kann ich die Ursache nicht feststellen. Ich treffe erneut auf die zwei Polen, die mir erzählen, dass sie die Stadt Braga besichtigt haben. Zu einem späteren Zeitpunkt sehe ich, wie Vater und Sohn nebeneinander unter Bäumen liegen und Siesta zu machen scheinen. An einer Kirche trage ich Sonnencreme auf und drei Senioren fragen mich, ob ich allein unterwegs sei. Als ich bejahe, meinen sie, dass es gefährlich sei, denn schließlich sei vor etwa drei Monaten eine deutsche Pilgerin verschwunden. Näheres weiß man nicht. Ich weiß mich mit meinem Wanderstab zu verteidigen, antwortete ich und setzte meinen Weg in Richtung Vigo fort. Auf einen längeren Aufenthalt in der Stadt habe ich keine Lust. Ich hoffe, die Vorstadt von Vigo schnell hinter mir zu lassen, doch es dauert lange, bis ich die die Stadt umgebenden Hügel erreiche, von denen sich herrliche Blicke auf den Hafen bieten. Die Wald- und Feldwege scheinen kein Ende zu nehmen. In Redondela angekommen, frage ich eine Rentnerin nach dem Weg zur Albergue. Kaum habe ich drei Worte gesagt, ruft sie ihren Mann herbei und teilt ihm mit, dass hier ein Alemán vor ihr steht. Freundlich hilft er mir, mich zu orientieren. In der Innenstadt treffe ich auf Christian und Ricci, die mir sagen, dass die Albergue schon ziemlich belegt ist. Tatsächlich nimmt sie keinen Pilger mehr auf und ich werde auf die Nebenstraße aufmerksam gemacht. Im Hostel Rosa kehre ich ein und zahle 13 Euro für die Nacht, ohne Frühstück. Nach der Dusche begegne ich einem niederländischen Pilger-Paar, das mit dem Fahrrad unterwegs ist, seit 18 Jahren in Portugal lebt und hier einen Milchbetrieb besitzt. Mein Zimmer teile ich mit zwei Frauen aus Polen. Innerlich schmunzele ich, als mir eine von ihnen erzählt, dass sie vermutlich von Bettwanzen gebissen wurde, denn bisher hatte ich nur einen Pilger kennengelernt, der von Bettwanzen heimgesucht wurde, und das war ebenfalls ein Pole. Offensichtlich haben es die portugiesischen bed bugs auf polnische Pilger abgesehen. In der Stadt kaufe ich Brot und Aufschnitt und setze mich auf eine Bank nahe der Pilgerherberge. Mit einem Italiener, den ich bereits vor Porto flüchtig kennengelernt hatte, unterhalte ich mich nur kurz. Zurück im Hostel creme ich meine Füße ein und beobachte einen Schwarm Moskitos in der Zimmermitte kreisen.
21.5. Redondela → Briallos

Gegen 6:30 Uhr stehen meine polnischen Zimmergenossinnen und ich auf. Wider Erwarten wurde ich in der Nacht nicht durch Moskitos belästigt. Wie angekündigt, schließt Hostelchefin Rosa Punkt 7 Uhr auf und wünscht Buen Camino. Da ich den Schriftzug 'Santiago' auf dem Asphalt nicht sehe, mache ich einen großen Umweg. Ich treffe Christian und Ricci, denen ich auf Nachfrage erzähle, dass ich einmal wöchentlich eine SMS in die Heimat schicke. Für Christian, der selbst einen erwachsenen Sohn hat, wäre das zu wenig. Heute sind deutlich mehr Pilger unterwegs, als ich bislang gewohnt war. Im Wald verkaufen zwei Händler Armbänder. In einer kleinen Kirche sorge ich für einen weiteren Eintrag in meinem Pilgerpass und in einem Restaurant esse ich einen großen Bocadillo – Pechuga completo – zu einem günstigen Preis. Mit Eduardo, Vera und José aus Portugal gehe ich ein Stück gemeinsam. Als es zu nieseln beginnt, erreiche ich die Herberge in Briallos. Mir begegnen ausnahmslos Deutsche, die dieses abgeschieden gelegene Quartier mit offener Tür ohne Verantwortlichen vorgefunden haben. Im Erdgeschoss des sauberen Hauses befinden sich Küche und Duschräume und im Obergeschoss bieten zwei Schlafsäle mit je sechs Stockbetten Platz für 24 Personen. Zwischen den beiden Schlafräumen stehen - über Schiebetüren erreichbar - zudem sich gegenüberliegende Bereiche mit Toiletten und Waschbecken - nach Geschlechtern getrennt - zur Verfügung. Es heisst, dass es im Ort einen Einkaufsladen gibt. Ich verlaufe mich und treffe auf einen alten Mann, der mir den Weg weist. Kurz bevor ich vor dem Laden stehe, kommt der alte Mann auf seinem Roller angefahren, um zu sehen, ob ich den richtigen Weg gegangen bin. Der Typ ist mir sympathisch. Ich kaufe Brot, Wurst, Paprika und Orangen ein. Nach einer langen Dusche esse ich gemeinsam mit den Portugiesen, die eigentlich nur den Regen abwarten und weitergehen wollen, da sie keine Schlafsäcke dabei haben und es hier keine Decken gibt. Eduardo erzählt mit Leidenschaft von seiner portugiesischen Heimat und insbesondere von der Weinkultur. Zwei spanischen Pilgern helfe ich beim Check-In. Unter der Telefonnummer, die an der Eingangstür notiert ist, erreiche ich die für die Herberge verantwortliche Person und frage nach möglichen Decken für die Portugiesen. In dieser Herberge zählen Decken angeblich nicht zur Grundausstattung und auch die Frau, die später eintrifft, um den Betrag für die Übernachtung zu kassieren, bringt keine Decken mit, sodass die Portugiesen ohne Decken schlafen müssen.
22.5. Briallos → Teo

Nach einem Frühstück, welches aus Brot, Salami und Paprika und damit den Resten des Abendessens besteht, breche ich bei klarem Wetter als Vorletzter kurz vor 8 Uhr auf. Teilweise entlang der Hauptstraße N-550 wandernd, erreiche ich nach etwa einer Stunde das circa fünf Kilometer entfernte Caldas de Reis und einen Großteil der Deutschen habe ich mittlerweile überholt. Zwei Mitarbeiter der Protección Civil halten mich an, da sie eine Statistik zum Pilgeraufkommen durchführen. Sie möchten unter anderem wissen, welcher Nationalität ich angehöre, wo ich die letzte Nacht verbracht habe und welches mein heutiges Etappenziel ist. Im Anschluß wird mir auf Nachfrage bestätigt, dass vor einigen Monaten eine Frau auf dem Jakobsweg verschwunden sei. Es gäbe allerdings bisher keine Spur. Nachdem die Beamtin des Zivilschutzes einen Stempel in meinen Pilgerpass einträgt, setze ich meinen Weg durch eine reizvolle grüne Landschaft fort und denke über das Verschwinden der Pilgerin nach. Sie könnte tatsächlich einer Straftat zum Opfer gefallen sein. Möglicherweise hat sie aber den Pilgerweg genutzt, um woanders ein ganz neues Leben zu beginnen. Ich kämpfe mich durch die Menschenmenge in Padrón. Heute ist Markttag. Gegen 13:45 Uhr begutachte ich die örtliche Albergue und stehe im größten Schlafsaal, den ich seit Beginn meiner Reise gesehen habe. Einige der etwa 60 Betten sind noch frei. Ich frage die Empfangsdame, wieviele Betten es in der nächsten Albergue, in Teo, gibt. 18, antwortet sie mir. Freundlicherweise wählt sie die Telefonnummer in Teo, um die freien Kapazitäten zu erfragen, doch leider nimmt am anderen Ende niemand ab. Ich gehe das Risiko ein, kein Bett zu bekommen, und verabschiede mich, zumal es gerade einmal 14 Uhr ist und ich noch Power habe. Bis Teo sind es etwa 10 km. Ich bin zumeist auf Feldwegen unterwegs und sehe eine ganze Weile lang mehrere hundert Meter vor mir eine junge Frau gehen. Sie legt ein gutes Tempo vor, es dauert lange, bis ich sie kurz vor Teo eingeholt habe. Sie ist US-Amerikanerin und hat hier in einer Pension ein Zimmer reserviert. Letztendlich ziemlich erschöpft erreiche ich die etwas abseits der Hauptstraße gelegene Albergue, zahle bei der jungen Hospitalera für die Übernachtung sechs Euro, schreite die Treppe hinauf und begegne im Schlafsaal einer Handvoll Asiaten. Auf meinem Bett liegen Einmalüberzüge für Kopfkissen und Matratze. Das Duschwasser ist kalt. Ob die US-Amerikaner mit phillipinischen Wurzeln das ganze warme Wasser aufgebraucht haben? Ich frage mich, warum diese Albergue drei Muscheln (ähnlich dem Sterne-Prinzip bei Hotels) erhielt. Mir fehlen vermutlich die Vergleichsmöglichkeiten auf dem Camino Francés. Egal. Mit der Niederländerin Riana und den Italienern Silvano und Romeo esse ich in einer etwa 300 Meter entfernten Bar zu Abend. Ich bestelle Pimiento de Padrón und einen riesigen Hamburguesa. Die Italiener erzählen vom Camino a Assisi, dem Franziskusweg. Zufällig hatte ich vor einigen Monaten einen Film über den heiligen Franz von Assisi gesehen. Dass es einen Pilgerweg gibt, erstaunt mich daher wenig. Riana meint, dass im vergangenen Jahr eine Frau auf dem Camino Francés verschwunden und vor wenigen Wochen eine Frau auf dem Camino Portugués missbraucht worden sei. Zwar ist Riana meist allein unterwegs, aber Angst machen ihr solche Geschichten nicht, da so etwas überall passieren kann. Hinsichtlich meines besonders geschundenen kleinen Zehs am linken Fuß empfiehlt mir Riana in Santiago eine Petiküre durchführen zu lassen und sponsort zwei Compeed-Pflaster. Während eines Kurses in Österreich hat sie 'richtig' Gehen gelernt. Ein 'Rollen' der Zehen gilt es zu vermeiden, da es zu Reibung führt. Silvano und Romeo sind in Santiago gestartet und wollen von Vigo nach Porto pilgern. Da ich von dem Küstenweg schwärme, notieren sie sich die auf dem Weg befindlichen Alberguen. Kaum sind die gebürtigen Asiaten um 21 Uhr eingeschlafen, beginnt einer von ihnen laut zu schnachen. Interessant ist es zu sehen, wie ein Paar von ihnen gemeinsam im unteren Etagenbett liegt.
 
23.5. Teo Santiago de Compostela

Einer jungen Niederländerin geht es nicht gut. Sie und ihr Freund werden erst später starten. Als ich mich kurz verlaufe, indem ich auf der Suche nach dem richtigen Weg die Vortagesstrecke zu weit zurücklaufe, schmerzt die Blase an meiner linken Ferse stark. Vermutlich habe ich es gestern mit den fast 34 km übertrieben. Ich wechsele den Schuh und nehme das erste Mal während meines Caminos eine Schmerztablette. Es dauert nicht lange und es ist deutlich besser. Liegt es an der Tablette oder an der Routine des Gehens? Auf einem Feld unterhalte ich mich mit einem Farmer, während er seinen Mais vereinzelt bzw. Unkräuter – hierbas malas – entfernt. Minuten später begegne ich einer Frau, die einen mit einem Pestizid gefüllten Karnister auf dem Rücken trägt und zu ihrem Kartoffelacker unterwegs ist. Diese Begegnungen gefallen mir besonders. Menschen und ihr alltägliches Leben auf dem Land. Das Stadtgebiet von Santiago zu erreichen, ist auf den letzten Metern ziemlich erschwerlich, denn es geht teilweise ziemlich steil bergauf. An einer Weggabelung rät mir ein freundlicher alter Mann geradeaus zu gehen, da ich dadurch zwei Kilometer sparen könnte. Am Parque de la Alameda angekommen, erinnere ich mich an den September 2003, als ich hier täglich durchspazierte, um zum Spanisch-Intensivkurs zu gehen. Den Praza do Obradoiro erreiche ich gegen 13 Uhr. Viele Pilger sitzen auf dem gepflasterten Platz. Ich setze mich vor den Raxoi-Palast und blicke auf die Kathedrale, die teilweise in Gerüsten steht, und beobachte, wie sich Pilger bei der Ankunft auf dem Platz in die Arme fallen. Ich erinnere mich, dass Marco sagte, dass es ein sehr schönes Gefühl ist, gemeinsam mit anderen Pilgern, mit denen man auf dem Weg viele schöne Momente teilte, den Platz zu erreichen. Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Zwar bin ich nicht traurig, allein angekommen zu sein, doch würde ich mich über ein Wiedersehen einige Bekannter sehr freuen. Ich merke, dass ich erleichtert bin, angekommen zu sein. Als ich die Hauptpforte passiert habe, werde ich auf den östlichen Eingang verwiesen. Mulmig ist mir, meinen Rucksack aufgrund der Sicherheitsvorschriften draußen unbeaufsichtigt stehen zu lassen. Da ich allein bin, bleibt mir nichts anderes übrig, wenn ich das Ankunftsritual vollziehen möchte. Ich habe großes Glück, denn gerade findet die Pilgermesse statt und so umarme ich die Figur des Apostels Jakobus des Älteren, während vor meinen Augen von acht Tiraboleiros der berühmte 'botafumeiro', ein 54 kg schweres Weihrauchfass, geschwungen wird. Als ich wieder draußen bin, treffe ich Romeo aus Verona. Minuten später höre ich Diana meinen Namen rufen. Sie und Marco sitzen gerade in einem Café – was für ein Zufall. Wir sind froh einander zu sehen und tauschen uns bei einem Radler aus. Sie sind bereits am Vortag angekommen und hatten gestern auch Joaquín getroffen. Nachdem wir gemeinsam Mittag gegessen haben, nehmen wir von Diana Abschied. Sie wird weiter nach Finisterre gehen. Der Zufall will es, dass wir uns ein paar Tage später wiedersehen. Im Tourismusbüro erkundige ich mich nach Unterkünften und mache mich auf den Weg zur nahegelegenen 'Mundoalbergue'. Für 22 Euro steht mir ein Doppelbett zur Verfügung. Zwar hätte mir auch ein Einzelbett gereicht, doch ist keines mehr frei. In den engen, von Touristen und Pilgern verstopften Gassen treffe ich viele Deutsche wieder, darunter Klaus, der mir von einer auf dem Praza do Obradoiro installierten Webkamera berichtet, über die ihn sein Sohn im Internet sehen konnte. Ich gehe zum Peregrino-Office, um meine Compostela zu erhalten. Die Warteschlange ist sehr lang und nach etwa eineinhalb Stunden halte ich meine Pilgerurkunde in der Hand. An der Kathedrale bin ich mit Marco verabredet, um gemeinsam Abend essen zu gehen. Ein Mann vom Sicherheitspersonal erzählt mir auf Nachfrage, dass alle 20 Jahre – das letzte Mal 1983 – die Kathedrale von Grünspan besäubert wird. Zudem wird der in den 1940er und 1970er Jahren verarbeitete Zement durch ein kalkähnliches Mittel ersetzt, da Zement den Stein nicht atmen lässt und Wasser eindringt. Zufällig treffen wir auf Robert und Rebecca aus Australien und essen mit ihnen gemeinsam. Nun verabschiede ich mich von Marco. Zurück im Hostel liege ich in meinem Bett bequem und schlafe trotz eines lauten Schnarchers gut.
 
 
24.5. Santiago

Bereits gestern hatte ich mich dagegen entschieden, weiter nach Finisterre zu gehen, obwohl mein Rückflug erst am 2.6. geplant ist. Ein etwas schmerzender Rücken und die Blasen an den Füßen veranlassen mich, meinen Rückflug umzubuchen. Für 20 Minuten Computernutzung zahle ich einen Euro und verlege meinen Vueling-Flug für eine Gebühr von 90 Euro auf den 26.5 vor. Für die folgende Nacht ergattere ich eine Matratze für 14 Euro in der sogenannten Galeria. Heute ist es leider kühl und feucht. Nachdem ich eine Zeit lang im Parque de la Alameda verweile, treffe ich im Hostel auf Sandra und Christian. Sandra macht auf mich einen sehr ausgeglichenen Eindruck und erzählt mir, dass sie stets ihrem Körpergefühl vertraut und daher keine Blasen hat. Um Reibungen zu verhindern, beklebt sie ihren gesamten Fuß mit Heftpflastern. Sie geht eher langsam, wie eine Tortuga, die auch ihr Haus/Gepäck auf dem Rücken trägt. Christian hat hingegen viele Blasen. Er ist Portugiese und pilgert nicht nach Fátima, da der Ort ihm zu kommerziell erscheint.
25.5. Santiago → Muxía

Auf der Matratze konnte ich ebenfalls bequem liegen. Zunächst dachte ich, dass der Mann neben mir so laut schnarcht, doch war es schließlich eine der Brasilianerinnen. Meinen gepackten Rucksack darf ich auf dem kleinen Hof zwischenlagern, denn ich habe mich spontan entschieden, mit dem Bus nach Muxía zu fahren, um Heli zu besuchen, anschließend zu Fuß nach Finisterre zu wandern und von dort den letzten Bus um 19 Uhr nach Santiago zu nehmen. Letztere Idee ist allerdings sehr gewagt. Die Fahrt nach Muxía kostet acht Euro. Um 10:45 Uhr erreicht der Bus dieses wunderschöne Fleckchen Erde. Vom Santuario da Virxe da Barca hat man einen herrlichen Blick auf den Ozean. Nach langer Suche stehe ich schließlich vor Helis Haus. Niemand öffnet. Sie ist vermutlich noch unterwegs. Ich schreibe ihr eine Nachricht und deponiere diese unter einem Stein auf der Türschwelle. Am Ortsausgang zeigen am Ende des Holzstegs gelbe Pfeile in alle Richtungen. Ich habe keine Ahnung, in welche Richtung es nach Finisterre geht. Es ist niemand hier, den ich fragen kann und das örtliche Tourismusbüro ist heute geschlossen. Da auch dunkle Wolken aufziehen, beschließe ich in Muxía zu bleiben und mit dem Bus am Abend zurück nach Santiago zu fahren. Ich suche erneut das Santuario auf, esse im Zentrum ein Eis und lausche dem Gespräch einer Gruppe von US-Amerikanerinnen. Eine von ihnen schwört auf einen geschlossenen Tannenzapfen zur Massage der Füße. Angeblich hätte sie diesen Tipp von einer Chinesin erfahren und letztendlich kann sie weder über Blasen noch sonstige Schmerzen an den Füßen klagen. Fünf Minuten vor Ankunft des Busses um 14:30 Uhr sehe ich Diana mit ihrem Wanderstab an mir vorbeilaufen. "Diana" rufe ich, während ich mich hinter den anderen Wartenden verstecke und gebe mich schließlich zu erkennen. Es ist unglaublich, dass wir uns auch hier wiedersehen. Zurück in Santiago begebe ich mich auf die Suche nach einer Pulsera, einem Fuß(arm)band. Ich lege keinen Wert auf die sonstigen größtenteils sehr kitschigen Souvenirs, aber eine Pulsera möchte ich als Erinnerung an den Camino gerne haben. Die Suche gestaltet sich als schwierig. In einigen Geschäften gibt es so etwas gar nicht, anderswo gefallen sie mir überhaupt nicht. Vorerst enttäuscht verlasse ich das geschäftige Treiben der Altstadt und statte dem Wohnheim 'Fonseca' einen Besuch ab. Zurück in der Souvenirmeile kann ich mich schließlich doch noch für ein Fußband begeistern. Der heilige Jakobus scheint allgegenwärtig, denn ich treffe Carminda. Ein paar Minuten später begegnet uns Heli und nachdem wir gemeinsam in einer Bar 'Churros' essen, treffen wir Viktor. Mit seinen knapp 100.000 Einwohnern ist die Hauptstadt Galiziens nicht sehr groß, doch in der Altstadt tummeln sich hunderte von Menschen und dass sich Pilgerbekanntschaften nach mehreren Tagen ohne Kontakt hier wiedersehen, ist schon ein kleines Wunder.
26.5.

Nach 23 Tagen auf dem Camino Portugues und zwei Tagen in Santiago (und Muxía) trete ich die Heimreise an. Für mich war es der erste Camino. Er war zweifelsfrei eine Herausforderung. Während an den ersten Tagen hohe Temperaturen herrschten und mich teilweise vor Wassermangel die Kraft verließ, regnete es anschließend eine ganze Woche lang fast ununterbrochen durch, was ein Trocknen der Kleidung und Schuhe unmöglich machte. So manches Mal war ich kurz davor, eine Etappe zu überspringen und meinen von Blasen geschundenen Füßen einen Tag Erholung zu gönnen. Ich habe Respekt vor dem Weg. Es wird nicht mein letzter gewesen sein.

> 1./26.-V-'16 <

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